Georg Walter (01.12.2021)

Die reformierte Theologie folgt der Spur Calvins und letztlich der des Augustinus und vertritt eine mehr oder minder ausgeprägte deterministische Auffassung von Souveränität. Während viele Calvinisten diese Einschätzung von sich weisen würden, räumt der reformierte Theologe Myk Habets selbstkritisch ein:

„Zahlreiche Erörterungen der Erwählung wurden von reformierten Theologen vorgestellt, unter denen viele in die Kategorie des Determinismus und manchmal des Fatalismus eingeordnet werden müssen.“[1]

Der bedingungslose Wille oder Ratschluss Gottes ist die einzige Ursache von allen Ereignissen der Geschichte und allen Handlungen des Menschen. Daraus folgt, dass der menschliche Wille grundsätzlich unfrei ist, obgleich dem Menschen in der calvinistischen Theologie eine gewisse Form des freien Willens zugesprochen wird. Viele reformierte Theologen weisen die Aussage, sie seien Deterministen, zwar zurück, beharren aber gleichzeitig auf der Lehre der bedingungslosen und uneingeschränkten Souveränität, die alles Handeln der Menschen letztlich bestimmt.

Dies kommt beispielsweise im Westminster Bekenntnis – bis heute noch in vielen reformierten Kirchen gültige Bekenntnisschrift – in Bezug auf die Bekehrung des Menschen zum Ausdruck:

Diese wirksame Berufung stammt allein von Gottes freier und besonderer Gnade, ganz und gar nicht von irgendetwas, was im Menschen vorausgesehen war, der darin ganz passiv ist, bis er – durch den Heiligen Geist belebt und erneuert – dadurch befähigt ist, seiner Berufung zu folgen und die darin angebotene und vermittelte Gnade zu empfangen (Hervorhebung durch den Autor).[2]

Ferner heißt es im Westminster Bekenntnis auch, dass Gott

… den Willen des Menschen mit einer solchen Freiheit ausgerüstet, dass er weder zum Guten oder Bösen gezwungen, noch durch irgendeine absolute natürliche Notwendigkeit begrenzt worden ist.[3]

Es ist diese Widersprüchlichkeit, die die reformierte Theologie charakterisiert.

Die Lehre der Souveränität – ein Paradoxon?

In der reformierten Literatur trifft man häufig diese „Logik“ der Unerklärbarkeit an. Gottes Souveränität und der freie Wille werden als Paradoxon, Geheimnis oder Widerspruch beschrieben, die über das menschliche Denkvermögen hinausgehen. F. H. Klooster beispielsweise schreibt: „Göttliche Souveränität und menschliche Verantwortlichkeit sind paradox und jenseits des menschlichen Verstehens.“[4] Trotz dieses Bekenntnisses verwenden reformierte Theologen viel Zeit und Energie darauf, das Unerklärliche zu erklären und beharren in der theologischen Auseinandersetzung auf ihrem Standpunkt.

Das Westminster Bekenntnis bezeugt mit Blick auf den ewigen Ratschluss Gottes:

Gott hat von aller Ewigkeit her nach dem vollkommen weisen und heiligen Ratschluss seines eigenen Willens uneingeschränkt frei und unveränderlich alles angeordnet, was auch immer geschieht“ (Hervorhebung durch den Autor), um sogleich zu bekräftigen: „doch so, dass Gott dadurch weder Urheber der Sünde ist noch dem Willen der Geschöpfe Gewalt angetan, noch die Freiheit oder Möglichkeit der Zweitursachen aufgehoben, sondern vielmehr in Kraft gesetzt werden.[5]

 

Emil Brunner

Der Schweizer reformierte Theologe Emil Brunner (1889-1966) befasste sich in seinem Werk Dogmatik II mit dem Thema Die Vorsehung Gottes und die menschliche Freiheit. Dabei beschäftigten ihn zwei Fragen. Erstens, wenn alles Geschehen durch Gottes Willen bestimmt ist, wie verhält es sich dann mit der Freiheit des Menschen? Und zweitens, wenn alles Geschehen durch Gottes Willen bestimmt ist, wie verhält es sich mit der Liebe und Gerechtigkeit Gottes?

Der „Determinismus von oben“ – so nennt Brunner die Vorstellung, Gott habe alles Geschehen, einschließlich allen menschlichen Tuns, als Notwendigkeit göttlicher Vorsehung vorherbestimmt (prädestiniert) – führt zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass Gott zum Verursacher von Sünde wird. Brunner schreibt:

Nur wenige christliche Denker, wie zum Beispiel Zwingli, haben es gewagt, diese Konsequenz [die Notwendigkeit allen Geschehens aufgrund göttlicher Vorsehung] aus ihrem Providenzgedanken [Providenz = Vorsehung] zu ziehen. Wo dies geschieht, wird Gott auch zum Ursächer der Sünde, wie Zwingli offen zugibt. … Wenn aber Gott den Räuber antreibt, ‚ist dieser nicht gezwungen? Ich gebe zu, er ist gezwungen, dann aber um hingerichtet zu werden.‘ (De Providentia, Kapitel 2).[6]

Calvin hingegen schreckt vor der Konsequenz, Gott sei Verursacher des Bösen, wie Zwingli es in seiner Schrift De Providentia darlegte, zurück. Ein derartiger Gedanke erscheint Calvin geradezu gotteslästerlich. Brunner beobachtet allerdings in Bezug auf Calvins Widersprüchlichkeit zutreffend:

… nur ist nicht zu erkennen, wie er sich ihr [der Notwendigkeit allen Geschehens] anders als durch einen Gewaltakt des Willens … entziehen kann. … Notwendig ist bei ihm nur der eine Gedanke, der der Bestimmtheit alles Geschehens durch Gott, nicht aber der der menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit. Wenigstens hat Calvin da, wo er den Providenzbegriff entfaltet, diesem zweiten Gedanken durchaus nicht den Charakter gleicher, letzter Notwendigkeit zu verleihen vermocht. Calvin leugnet die menschliche Freiheit, behauptet aber gleichzeitig die volle menschliche Verantwortlichkeit, während er gleichzeitig Gott zum alleinigen Bestimmer des Geschehens macht, ohne ihm doch die Bewirkung des Bösen zuzuschreiben. Das ist das so sehr Unbefriedigende, um nicht zu sagen Peinliche und Unaufrichtige im Gedanken Calvins. Er gibt gar nicht zu, dass hier für unser Denken ein unlösbares Dilemma vorliege … sondern er tut dergleichen, als ob logisch alles in Ordnung wäre, während er tatsächlich der Logik ins Gesicht schlägt.[7]

Die Grundproblematik reformierter Theologie tritt in Emil Brunners Ausführungen unverblümt zutage. Folgt man der Lehre Calvins konsequent, muss sie notwendigerweise in den Schlussfolgerungen Zwinglis münden. Dann stünde calvinistische Theologie allerdings im Widerspruch zur Schrift – und auch zur Logik –, denn Gott ist nicht Urheber des Bösen (Jak 1,13-17; 1Jo 1,5; Tit 1,2; 2Tim 2,13).

Brunner merkt an, dass in den theologischen Debatten die häufigste Antwort auf das Problem des göttlichen Determinismus lautete, zwischen Determinismus und Vorauswissen zu unterscheiden. „Gott tut nicht alles, was geschieht, aber er weiß alles voraus.“[8] Dies führt unumgänglich zur nächsten Frage. Wenn Gott zwar über Vorauswissen verfügt, aber das Tun des Menschen nicht vorherbestimmt, wie steht es dann mit seiner Allmacht und Souveränität? Um dieses Problem zu lösen, so Brunner, führten Theologen den Begriff der Zulassung ein.

Gott will nicht, Gott bewirkt auch nicht den Fall Adams … und alles, was darauf folgt; andererseits sieht er es auch nicht bloß voraus, ohne etwas daran ändern zu können, sondern indem er es voraussieht, lässt er ihm Raum, dass es geschehen kann.[9]

Gott ist aus der Sicht Brunners nicht absolute Macht in dem Sinne einer Allwirksamkeit, sondern der Gott, der sich selbst begrenzt. „Gott will und schafft freie Kreatur, weil er Gemeinschaft, nicht Einheit will. Er will in Freiheit geehrt sein.“[10] Brunner bemüht sich, ganz von der Offenbarung Gottes, der Bibel, her zu argumentieren und ist darauf bedacht, philosophisch-metaphysische Spekulationen zu vermeiden.

Die Schwäche von Zwingli und Calvin

Letzteres, so Brunner, war die Schwäche von Zwingli und Calvin – und in gewisser Weise der meisten Reformatoren, zu denen auch Luther zu zählen ist. Viele der Reformatoren waren als ehemalige Katholiken nicht nur geprägt von der mittelalterlichen Theologie, der Scholastik, sondern auch von Augustinus – Luther selbst war Augustinermönch, ehe er zum Protestanten wurde. Brunner kommt zu dem Schluss:

Zwingli akzeptiert die stoische necessitas [Stoa: griech. Philosophie; necessitas: Notwendigkeit], Calvin verwirft sie in thesi, führt sie aber wieder ein, ohne sie beim rechten Namen zu nennen. Und er tut es mit Berufung auf einen Allmachtsbegriff, der nicht der biblische, sondern ein spekulativer ist.[11]

Brunner geht nicht näher auf den Vorwurf ein, Calvin folge der Spur Zwinglis, sondern verweist in der Fußnote darauf, dass Calvin in seiner Institutio I, 17,5 Zwinglis Argumentation unverkennbar folge. Dort bekräftigt Johannes Calvin:

Ich gebe noch mehr zu: Diebe und Mörder und andere Übeltäter sind tatsächlich Werkzeuge der göttlichen Vorsehung, die der Herr zur Durchführung der Gerichte gebraucht, die er bei sich beschlossen hat. Aber ich bestreite, dass deshalb die Übeltaten dieser Leute irgendeine Entschuldigung verdienen. Denn wie sollten sie eigentlich Gott mit sich in ihre Bosheit verwickeln oder mit seiner Gerechtigkeit ihre Bosheit decken? Sie können doch beides nicht! Damit sie sich nicht reinwaschen können, straft sie ihr eigenes Gewissen; damit sie nicht Gott beschuldigen, finden sie, dass das Böse ganz in ihnen steckt, bei Gott dagegen nur die rechte Benutzung ihrer Bosheit liegt![12]

Brunner erkennt die Widersprüchlichkeiten Calvins und Zwinglis sehr wohl. Die Philosophie kann das Problem nicht hinreichend lösen, zu plump wären die Antworten. So ringt Brunner selbst um eine Antwort aus der Heiligen Schrift, indem er sich auf die Offenbarung von Gottes Wort zurückgeworfen weiß, um die großen Fragen um Freiheit, Vorsehung, Gottes Allmacht und Souveränität zu lösen. Dennoch bleibt auch ihm diese Frage letztlich „das undurchschaubare Geheimnis des göttlichen Allmachtswirkens, das Wirken des allmächtigen Gottes, der sich selbst begrenzt, um seiner Kreatur Raum zu schaffen und der doch, weil er selber sich begrenzt, nicht aufhört, der Herr alles Geschehens zu sein. Wir wissen, dass das eine und das andere wahr ist, ja dass das eine nur wahr ist, weil das andere wahr ist.“[13]

Brunner kommt schließlich zu dem Schluss, dass es ein Geheimnis des Wesens und Waltens Gottes gibt, das uns Menschen verschlossen bleibt. Es muss dem Menschen genügen, „aus der Offenbarung die Wahrheit zu erkennen, dass Gott alles lenkt und dass nicht er, sondern wir allein verantwortlich sind für das Böse, das wir tun.“[14] Für Brunner ist die Einführung des Begriffs „Zulassung“ keine Erklärung für diese schwierige Frage, sondern lediglich der Versuch, die Philosophie „in den Dienst der Glaubenserkenntnis zu stellen.“[15] Ein solches Vorgehen täusche allenfalls eine Lösung vor, die letztlich keine sei. Brunner zieht letztlich folgendes Fazit:

Der andere Weg ist der, den im Ganzen das biblische Zeugnis geht: Die Nebeneinanderstellung der vollen menschlichen Verantwortlichkeit und Freiheit und der göttlichen Herrschaft über alles Geschehen; die unbedingt eindeutige Alleinverantwortung des Menschen für das Böse und die göttliche Allmacht und Weisheit, die aus diesem Bösen einen Faden des göttlichen Gewebes zu machen versteht, – beides ohne Reflexion über die logische Vereinbarkeit der beiden Aussagen.[16]

Luther, Zwingli, Calvin – sie alle waren geprägt von den theologischen Auffassungen ihrer Zeit. Luther beispielsweise nannte Ockham seinen „lieben Meister, den größten Dialektiker,“[17] obgleich er auch Stellung gegen ihn bezog. Gleichwohl wird deutlich, dass Luther die Lehren des Nominalismus, der Philosophie Ockhams, nicht rundweg aus seinem theologischen Denken verbannte. Der Nominalismus lehrt, dass Gottes Handeln weder Grenzen noch eine Selbstbegrenzung – beispielsweise durch sein eigenes göttliches Wesen (Gnade, Gerechtigkeit usw.) – kennt. Gott handelt wann, wie und wo er will. Der Weg von der starken Betonung der Souveränität Gottes im Sinne des Nominalismus führt geradlinig zur Prädestinationslehre sowie der Lehre des unfreien Willens.

Zwingli folgte in seinem Denken in mancher Hinsicht der Philosophie der Stoa. Calvin seinerseits gelangte zu der Überzeugung, dass Zwingli mit seinen Schlussfolgerungen über die Schrift hinausging. Doch indem Calvin Gott zum kausalen Verursacher allen Geschehens macht, der zugleich niemals Verursacher des Bösen sein könne, und indem er die menschliche Freiheit verneint, während er gleichzeitig alle Verantwortlichkeit dem Menschen selbst zuschreibt, folgt er unweigerlich der Spur Zwinglis, ohne die entscheidenden Fragen, die diese Sichtweise mit sich bringt, letztlich zu klären. Calvin interpretierte die Schrift durch die Brille seiner vorgefassten Annahmen des Allmachtswirkens eines souveränen Gottes. Er vermochte es nicht, sich gänzlich von der spekulativen Philosophie freizumachen. Und so blieb sein Allmachts- und Souveränitätsbegriff, wie Brunner richtig anmerkt, letztlich doch nur ein spekulativer, ein nicht von der Heiligen Schrift her gestützter Begriff.

Kompatibilismus

Diejenigen, die argumentieren, dass sowohl der Determinismus als auch der freie Wille miteinander vereinbar sind, werden als Kompatibilisten bezeichnet. Der Kompatibilismus wird auch als Zwei-Schienen-Modell bezeichnet. In der calvinistischen Prädestinationslehre steht die eine Schiene für den vor Grundlegung der Welt gefassten Ratschluss Gottes der Erwählung bestimmter Menschen, die andere für die Verantwortung des Menschen. Wie Eisenbahnschienen parallel nebeneinander verlaufen und sich erst in der Ewigkeit treffen, verlaufen diese Aspekte nebeneinander her. John Feinberg vertritt beispielsweise eine derartige Auffassung. Gleichwohl spricht er davon, dass die „Freiheit deterministischer Natur ist“[18] und alle freien menschlichen Handlungen, einschließlich Sünde, „kausal determiniert“ (causally determined) sind.[19]

Hier trifft man auf ein häufiges Phänomen. Viele Calvinisten bestreiten, dass sie Deterministen sind, bejahen aber gleichwohl, dass Gott in seiner Souveränität alle Ereignisse und Handlungen der Menschen kausal vorherbestimmt und damit verursacht. Während eine Reihe calvinistisch geprägter Theologen in gewisser Weise von einem freien Willen des Menschen sprechen, definieren sie den göttlichen Ratschluss als bedingungslos und wirksam. Das heißt, der souveräne Ratschluss Gottes ist von keinen äußeren Bedingungen abhängig und wird sich bis in die Lebenswirklichkeit von Menschen realisieren, auswirken.

Wie aber argumentieren Kompatibilisten? Wie lässt sich aus ihrer Sicht der freie Wille des Menschen mit dem souveränen Ratschluss Gottes, der alles kausal determiniert, vereinbaren? In der Regel trifft man auf drei Grundargumente, die diese Vorstellungen in Einklang bringen wollen.

Erstens, der freie Wille wird neu definiert, sodass er mit dem deterministischen Ratschluss Gottes vereinbar – kompatibel – ist. Die Freiheit des menschlichen Willens ist demzufolge die Fähigkeit, ohne Zwang den inneren Wünschen oder Beweggründen zu folgen und Entscheidungen zu treffen. Eine Person verfügt somit über einen freien Willen, solange sie in der Lage ist, zu tun, was sie will. Was aber eine Person tun will, ist dagegen von äußeren Umständen und inneren Beweggründen determiniert. Mit anderen Worten, eine Person verfügt nur deshalb über einen freien Willen, weil sie ihre Entscheidungen nicht aufgrund von äußeren Zwängen trifft. Sie tut nur das, was sie tun will. Aber zugleich kann eine Person laut Feinberg „auf der Grundlage der vorherrschenden ursächlichen Einflüsse (prevailing causal influences) nicht anders handeln.“[20]

Die Willensfreiheit des Menschen besteht nach dieser Theorie darin, Entscheidungen einerseits ohne äußeren Zwang auf Basis der eigenen inneren Wünsche und Beweggründe zu treffen, obgleich diese andererseits letztlich kausal in der Souveränität Gottes begründet sind. R. C. Sproul bekräftigt: „Einen freien Willen zu haben, bedeutet, Entscheidungen aufgrund unseres inneren Verlangens zu treffen.“[21]

Wie kann der Mensch frei sein, ohne dass Gottes Souveränität angetastet wird? Die Antwort dieser Theorie lautet: Obgleich der Mensch eine freie Entscheidung auf der Grundlage seines inneren Verlangens trifft, ist es Gott, der in seinem souveränen Ratschluss in der Ewigkeit vorherbestimmt und determiniert hat, was das innere Verlangen eines Menschen sein wird. Laut Feinberg hat „Gott in seinem Ratschluss beschlossen, welche Handlung der Mensch vollziehen wird.“[22] Boettner begründet dies mit folgenden Worten: „Gott regiert die inneren Gefühle, die äußere Umgebung, Gewohnheiten, Wünsche, Motive, usw., des Menschen so, dass sie frei tun, was Gott beabsichtigt.“[23]

Zweitens, eine Reihe von Calvinisten sprechen von Primärursachen und Sekundärursachen. Jede menschliche Handlung geschieht aufgrund von zwei Ursachen, einer primären Ursache, die Gott selbst zugeschrieben wird, und einer sekundären Ursache, die dem menschlichen Willen zugeschrieben wird. Louis Berkhof schreibt: „Jede Handlung ist in ihrer Gesamtheit sowohl eine Handlung Gottes als auch eine Handlung des Geschöpfs.“[24] Da beide Ursachen beim menschlichen Handeln zusammenwirken, bleibt Gottes Souveränität unangetastet, da Gott zwar der Verursacher aller Dinge ist (primäre Ursache), der Mensch gleichwohl für seine Handlungen verantwortlich bleibt (sekundäre Ursache). Da Gottes Ursache stets primär und in gewissem Sinne universell ist, kann der Wille des Menschen nie völlig unabhängig agieren. Der Mensch handelt stets auf Gottes primäre Ursache hin. Berkhof konstatiert: „In jedem Fall ist der Impuls zum Handeln und zu Ereignissen in Gott begründet,“ der „seine rationalen Geschöpfe, im Sinne sekundärer Ursache, zum Handeln befähigt und bewegt, und dies nicht lediglich indem er ihnen im allgemeinen Sinne Kraft verleiht, sondern indem er ihnen für gewisse spezifische Handlungen Kraft verleiht.“[25] Die Kraft zur persönlichen Entscheidung und zum Handeln des Menschen geht somit auf Gott selbst zurück. Der Mensch kann aus eigenem Vermögen nicht frei handeln.

Drittens, Gott lässt in seiner Souveränität zu, dass der Mensch gewisse Handlungen will und vollzieht. Obgleich der souveräne Ratschluss Gottes wirksam ist, gibt es einen Aspekt, wo die Zulassung Gottes – und auch dies ist bereits in Gottes Ratschluss eingeschlossen – in dieser Zeitlichkeit wirksam wird. Dieser Aspekt ist die Sünde. Da Gott nicht der Urheber der Sünde und des Bösen sein kann, hat er in seinem souveränen Willen die Zulassung der Sünde und des Bösen beschlossen. Gottes Ratschluss umfasst demnach sowohl das, was der Mensch tun wird, als auch das, was Gott zulassen wird. Diese Zulassung beschränkt sich aber lediglich auf sündhafte Handlungen. William T. Shedd schreibt: „Der Ratschluss der Zulassung bezieht sich nur auf das moralisch Böse. Sünde ist das einzige und alleinige Objekt dieser Art von Ratschluss.“[26] Mit dieser Argumentation weicht man dem Vorwurf aus, Gott sei Urheber des Bösen.

Doch Shedd argumentiert des Weiteren, dass selbst die Zulassung der Sünde Gottes Ratschluss ist.

Dies führt den prinzipiellen praktischen Wert der Lehre, dass Gott Sünde verordnet (decrees sin) vor Augen. Sie begründet die göttliche Souveränität über das gesamte Universum. Aufgrund seines Ratschlusses der Zulassung, hat Gott die absolute Kontrolle über das moralisch Böse, während er selbst nicht dessen Urheber ist und es verbietet. Würde er die Sünde nicht zulassen, könnte sie nicht geschehen.[27]

Ohne die Zulassung Gottes würde die Sünde also nicht geschehen. Auch die Zulassung Gottes hat ihren kausalen Grund im souveränen Ratschluss Gottes. Zanchius spricht gar von einer „wirksamen Zulassung Gottes“ – d. h., Gott selbst wirkt die Zulassung – und von Gottes „bestimmenden Willen der Zulassung.“[28]

Fazit

Der Versuch der reformiert-calvinistischen Theologen, die Souveränität Gottes mit seinen bedingungslosen und wirksamen Ratschlüssen und göttlichen Dekreten mit dem freien Willen oder dem unfreien Willen des Menschen in Einklang zu bringen, endet stets in einer logischen Sackgasse. Während diese Theologen sich zwar vom philosophischen Determinismus abgrenzen, der alles Geschehen und alle menschlichen Handlungen für kausal bestimmt hält und keinen persönlichen Schöpfer kennt, der die Geschicke der Welt und des Menschen regiert, bleiben sie dennoch in ihrem Denken insoweit deterministisch, als das der Schöpfer in seiner Souveränität und Vorsehung alle Ereignisse und Handlungen des Menschen vorherbestimmt (prädestiniert) und in gewisser Weise kausal determiniert. Die rationalen und mitunter philosophischen Erklärungsversuche, dem Menschen eine mehr oder weniger große Freiheit einzuräumen, fallen bei diesen Theologen unterschiedlich aus, münden jedoch stets in einer Form des Determinismus. Folglich kann man im Unterschied zum philosophischen Determinismus von einem theistischen Determinismus sprechen, wonach der persönliche Gott als Schöpfer der Welt alle Geschicke der Welt und des Menschen lenkt, aber zugleich auch kausal bestimmt.

Gottes Souveränität ist im reformiert-calvinistischen Denken letztendlich immer mehr oder weniger deterministisch. Wäre dies nicht der Fall, würde die göttliche Souveränität in diesem theologischen Denksystem keine allumfassende Geltung mehr haben. Die zahlreichen Zitate, die in diesem Kapitel angeführt wurden, dokumentieren hinlänglich, dass die deterministische Denkweise der reformiert-calvinistischen Anschauung maßgeblich anhaftet.

Die Versuche, Gottes Souveränität mit dem freien Willen zu harmonisieren, laufen letztendlich stets auf die gleichen Erklärungsversuche hinaus. Sei es (1), dass der freie Wille einfach neu definiert wird als das, was Gott als menschliche Beweggründe vorherbestimmt und wirkt, sei es (2), dass der primäre Wille Gottes universell alles regiert und lenkt, auch den sekundären, sogenannten freien Willen des Menschen, oder sei es (3), dass der freie Wille, der die Sünde vollbringt, unter dem Dekret der Zulassung Gottes geschieht, ohne den diese Sünde nicht geschehen könnte, Gott ist und bleibt stets die letzte Ursache und der Urgrund aller Ereignisse und Handlungen der Menschen.

Calvinisten drehen sich im Kreis ihrer Auffassungen über die bedingungslose und wirksame Souveränität Gottes. Dass man auf Grundlage der Heiligen Schrift aus diesem Kreis ausbrechen kann und eine Lehre der göttlichen Souveränität vertreten kann, die einerseits nicht deterministisch ist und andererseits eine hohe Sicht der Souveränität Gottes vertritt, zeigen die frühen Kirchenväter, die einmütig die freie Selbstbestimmtheit des Menschen lehrten. Erst mit Augustinus, der zunächst in Übereinstimmung mit der Lehrtradition der Kirchenväter den freien Willen des Menschen vertrat, kommt es in dieser Frage zu einem Paradigmenwechsel im theologischen Denken, der bis heute maßgeblich fortwirkt.

 

[1] Myk Habets, „There is no God behind the back of Jesus“ – Christologically Conditioned Election, in: Evangelical Calvinism: Essays Resourcing the Continuing Reformation of the Church, eds. Myk Habets & Bobby Grow, Pickwick Publications, an Imprint of Wipf and Stock Publishers, Eugene, OR, 2012, Kindle, S. 173.

[2] Westminster Bekenntnis.

URL: https://www.evangelischer-glaube.de/stimmen-der-v%C3%A4ter/westminster-bekenntnis/. Aufgerufen am 23.07.2020.

[3] Westminster Bekenntnis.

URL: https://www.evangelischer-glaube.de/westminster-bekenntnis/westminster-bekenntnis/. Aufgerufen am 23.07.2020.

[4] F. H. Klooster, „Sovereignty of God,“ Evangelical Dictionary of Theology, ed. Walter A. Elwell, Grand Rapids: Baker, 1984, S. 1039.

[5] Westminster Bekenntnis.

URL: https://www.evangelischer-glaube.de/westminster-bekenntnis/westminster-bekenntnis/. Aufgerufen am 23.07.2020.

[6] Emil Brunner, Dogmatik II, Theologischer Verlag, Zürich, 1972, S. 187-188.

[7] Ebd., S. 188.

[8] Ebd., S. 189.

[9] Ebd., S. 189.

[10] Ebd., S. 189.

[11] Ebd., S. 190.

[12] Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vluyn, 1988, S. 117.

[13] Emil Brunner, Dogmatik II, Theologischer Verlag, Zürich, 1972, S. 191.

[14] Ebd., S. 192.

[15] Ebd., S. 192.

[16] Ebd., S. 192.

[17] Weimarer Ausgabe, Tischreden II, S. 516 Nr. 2544a.

[18] John S. Feinberg, „God Ordains All Things,“ Predestination and Free Will, ed. Walter A. Elwell, Grand Rapids: Baker, 1994, S. 19.

[19] John S. Feinberg, „God Ordains All Things,“ Predestination and Free Will, ed. Walter A. Elwell, Grand Rapids: Baker, 1994, S. 24.

[20] John S. Feinberg, „God Ordains All Things,“ Predestination and Free Will, ed. Walter A. Elwell, Grand Rapids: Baker, 1994, S. 21.

[21] R. C. Sproul, Chosen by God, Wheaton: Tyndale, 1986, S. 54.

[22] [22] John S. Feinberg, „God Ordains All Things,“ Predestination and Free Will, ed. Walter A. Elwell, Grand Rapids: Baker, 1994, S. 21.

[23] Lorraine Boettner, Reformed Doctrine of Predestination, Grand Rapids: Eerdman, 1932, S. 214.

[24] Louis Berkhof, Systematic Theology, London: Banner of Truth Trust, 1939, S. 172.

[25] Louis Berkhof, Systematic Theology, London: Banner of Truth Trust, 1939, S. 173.

[26] William T. Shedd, Dogmatic Theology Volume I, New York: Charles Sribner’s Sons, 1888, S. 406.

[27] William T. Shedd, Dogmatic Theology Volume I, New York: Charles Sribner’s Sons, 1888, S. 407.

[28] Jerome Zanchius, Absolute Predestination, Sovereign Grace Publishers Inc., Mulberry, 2001, S. 54-55.