Georg Walter, Schömberg
Veröffentlicht am 10.11.2021
Die Reformation vor über 500 Jahren brachte, neben einer Reihe von kleineren Strömungen, zwei Hauptströmungen hervor, die lutherische und die calvinistisch-reformierte. Die Vertreter beider Denkrichtungen vermochten in der Zeit der Reformation nicht, Glaubenseinheit herzustellen. Martin Heckel blickt auf die Situation vor 500 Jahren zurück und analysiert treffend:
Das Verhältnis der Lutheraner zu den Calvinisten gestaltete sich in der Analogie zu dem Muster, das sich seinerzeit zwischen den Katholiken und Lutheranern entwickelt hatte: Der Einheits- und Wahrheitsanspruch des evangelischen Bekenntnisses wurde nicht aufgegeben, aber die Augsburgische Konfession wurde nunmehr in tiefer Spaltung ihres Sinnverständnisses von den Lutheranern und Calvinisten verschieden interpretiert… Der Bekenntnisstreit wurde dem Kaiser gegenüber als innerkirchlicher Lehrkonflikt der Evangelischen und als vorrübergehende Krise ausgegeben, ihre Einheit im gemeinsamen reformatorischen Ursprung betont und die Erneuerung dieser Einheit als gemeinsames Ziel beschworen. So wurde die Einigung über die derzeit unlösbaren Differenzen auf die Zukunft vertagt, in der sich dann die Einigungsbemühungen verloren …[1]
Heute, über 500 Jahre nach der Reformation, ist die Einheit des Glaubens in Lehrfragen zwischen Lutheranern und Calvinisten ebenso wenig hergestellt wie zwischen Calvinisten und Arminianern. Der Arminianismus ist eine kleinere Strömung des reformatorischen Protestantismus, der von Jacobus Arminius (1560-1609) als Gegenbewegung zum Calvinismus entstand. Zwischen Lutheranern und Reformierten gibt es zwar im Zuge des ökumenischen Dialogs Annäherungen, etwa durch die Leuenberger Konkordie aus dem Jahr 1973, um die Kirchenspaltung zwischen lutherischen, reformierten und unierten Kirchen zu überwinden. Inhaltlich jedoch sind die Lehrtraditionen noch immer eigenständig und fest in ihrer jeweiligen konfessionellen Theologie verankert.
Arminianer und Calvinisten zeigen dagegen eher begrenzt Gesprächsbereitschaft. Die theologische Debatte zwischen Calvinisten und Arminianern im Evangelikalismus ist nicht selten von Unversöhnlichkeit und gelegentlich von scharfer Polemik charakterisiert. Manche Betreiber von Blogseiten in den USA – und das gilt für beide Lager – argumentieren vielfach sehr robust und gefallen sich darin, dem jeweils anderen theologischen Lager zu unterstellen, es folge nicht der Heiligen Schrift. Es ist eine Utopie zu meinen, dass der noch immer schwelende dogmatische Streit dieser theologischen Denkrichtungen in dieser Generation gänzlich gelöst werden wird.
Eine unvoreingenommene Betrachtung der Theologie des Calvinismus und des evangelikalen Arminianismus wie auch des nichtcalvinistischen Evangelikalismus zeigt, dass sich die Denker aller Lager darauf berufen, sich allein auf die Schrift zu stützen. Es sind jeweils die unterschiedlichen Schlussfolgerungen und die Betonung unterschiedlicher Aspekte, die das Denken beider Strömungen trotz der gemeinsamen Wurzeln entscheidend prägt und bis heute im Protestantismus im Allgemeinen und im Evangelikalismus im Besonderen bisweilen tiefe Gräben aufreißt.
Jacobus Arminius und die Lehre der Souveränität
Während die Lehre über die Souveränität Gottes in calvinistischer Verkündigung und Literatur einen zentralen Stellenwert einnimmt, ist dieser Aspekt biblischer Lehre dem arminianischen Denken keineswegs nebensächlich. In der Theologie des Arminius war es wesentlich, Gottes Handeln, Gottes Wesen und Gottes Willen auf der Grundlage der Schrift zu erfassen. Über Gottes Handeln schreibt Arminius:
Gott handelt in zweifacher Weise mit dem gleichen Vorsatz; es handelt sich um die Schöpfung und die Vorsehung. (I) Die Schöpfung aller Dinge, und insbesondere des Menschen nach Gottes Ebenbild; darin ist seine souveräne Autorität über den Menschen begründet, daraus ist sein Recht abgeleitet, vom Menschen Anbetung und Gehorsam Ihm gegenüber zu fordern, gemäß der gerechten Klage Gottes durch Maleachi: Bin ich nun Vater, wo ist meine Ehre? Bin ich Herr, wo ist die Furcht vor mir? (1,6). (II) Durch die Vorsehung regiert Gott alle Dinge, und durch die Vorsehung übt er heilige, gerechte und weise Fürsorge und Aufsicht über den Menschen selbst aus sowie über diejenigen Dinge, die ihn betreffen, hauptsächlich jedoch über die Anbetung und den Gehorsam, den der Mensch Gott schuldig ist.[2]
Weiter schreibt Arminius:
Durch die Schöpfung ist die Herrschaft über alle Dinge, die von ihm geschaffen wurden, dem Schöpfer zu eigen. Sie ist, in erster Linie, von keiner anderen Herrschaft oder von einer anderen Person abhängig; und sie ist, aus diesem Grund, der Kernpunkt, denn es gibt keine größere Herrschaft; und sie ist absolut, denn sie erstreckt sich über die ganze Schöpfung in ihrer Gesamtheit und über alle und jedes ihrer Teile und über alle Beziehungen, die zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf bestehen. Sie ist, folglich, immerwährend wie der Schöpfer selbst.[3]
Die Herrschaft Gottes aber ist das Recht des Schöpfers und seine Macht über die Geschöpfe; demzufolge sind sie sein Eigentum, und er kann ihnen befehlen und sie gebrauchen und mit ihnen tun, was immer seine Gerechtigkeit, auf der die Schöpfung ruht, ihm erlaubt.[4]
Über die Macht Gottes schreibt Arminius:
Die wirksame Macht Gottes ist unendlich. Und das ist nicht nur der Grund dafür, dass es ihm möglich ist, alle Dinge zu tun, die fürwahr so unermesslich sind, dass man sie nicht aufzählen kann. … Denn alle geschaffenen Dinge hängen von ihm ab, wie von einem wirksamen Prinzip, sowohl in ihrem Sein als auch in ihrer Erhaltung. Daher wird ihm zu Recht Allmacht zugesprochen.[5]
Der souveräne Gott schließt durch seinen ewigen Gottessohn und sein Erlösungswerk am Kreuz von Golgatha einen Bund mit den Erlösten. Arminius sieht darin ein zweifaches Recht Gottes über den Menschen:
Daraus [aus Schöpfung und Bundesschluss] erwächst ein zweifaches Recht Gottes über seine rationalen Geschöpfe. Das erste aufgrund seiner Schöpfung, das zweite aufgrund seines Bundes. Ersteres beruht auf dem Guten, das das Geschöpf von seinem Schöpfer empfangen hat. Letzteres beruht auf dem noch größeren Nutzen, den das Geschöpf von Gott, seinem Erhalter, Förderer und dem, der ihn verherrlicht, empfangen wird. Wenn das Geschöpf gegen dieses zweifache Recht sündigt, gibt er durch diesen Akt Gott, seinem Herrn, König und Vater, das Recht, an ihm als sündigem Geschöpf zu handeln und die gebührende Strafe zu erteilen.[6]
Für Arminius war der Schöpfer und Herrscher über alle Dinge „einfach, unendlich, weise, gut, gerecht, allmächtig, glückselig in sich selbst“ und „würdig, Verehrung zu empfangen.“[7] Jesus Christus „verfügt in sich selbst über absolute Souveränität und pantokratorische [allherrschende], allmächtige Kraft über alle Dinge; über das Wissen als auch die Macht, die notwendig ist, alle Dinge zu regieren. Diese kann nicht weniger als göttlicher Natur sein; denn diese muss sich über alle Dinge im Allgemeinen und über jede Angelegenheit im Einzelnen erstrecken, und dies in einer unmittelbaren Weise, wenn die ihm innewohnende Wirksamkeit seiner Herrschaft berücksichtigt wird (1Kor 15,27; Offb 2 und 3; Phil 3,21; Gal 2,20).“[8]
In welchem Verhältnis steht der gefallene Mensch zu diesem souveränen Gott? Arminius hatte keinen Zweifel daran, dass der Mensch in seinem gefallenen Zustand nicht vor Gott bestehen konnte. Arminius spricht von der „großen NOTWENDIGKEIT“[9] (great necessity) des Menschen, das Erlösungswerk Christi im Glauben zu ergreifen, denn der Mensch in seiner „Krankheit und bösartigen Verderbtheit“ ist von Gott so vollständig getrennt durch eine „Kluft so groß, dass es für uns unmöglich ist, mit ihm vereint zu sein, …, es sei denn Christus hat die Weinpresse des göttlichen Zorn getreten und durch die Ströme seines kostbaren Blutes … die ansonst unüberwindbare Kluft überwunden.“[10]
Für Arminius war das Erlösungswerk Christi nicht nur zentral, sondern eine unabdingbare Wahrheit, die für jeden Christen zwingend war. „Aber wenn wir im geringsten Maße diese NOTWENDIGKEIT mindern oder begrenzen, wird Christus selbst unter Christen, seinem eigenen bekennenden Volk, einer Geringschätzung unterzogen; und auf die Dauer wird er völlig verneint und allseitig abgelehnt werden.“[11]
Arminius war überzeugt, dass Gott, der Vater, und Gott, der Sohn, absolut souverän über die Welt und die Geschicke der Menschen regieren. Der Mensch war in seinem gefallenen Sündenstand so weit von Gott entfernt, dass allein Christi Werk auf Golgatha diese Kluft überwinden konnte. Der Mensch konnte aus eigenem Vermögen vor Gott nicht bestehen. Wer diese Wahrheit nicht bewahrte, stand in der Gefahr, Christus zu verleugnen.
Wie Johannes Calvin geht Arminius von einem freien Willen des Menschen im sündlosen Urzustand aus. Doch im Unterschied zu Calvin ist Arminius überzeugt, dass der Mensch auch nach dem Sündenfall noch über einen freien Willen verfügt. Der freie Wille des gefallenen Menschen darf aber nicht so verstanden werden, dass der Mensch aus eigenem Vermögen das Heil empfangen oder erwirken kann, wie Calvinisten oft fälschlicherweise den Arminianern u.a. unterstellen. Arminius schreibt:
In seinem Urzustand, als der Mensch durch die Hand seines Schöpfers hervorgegangen war, war er mit einem solchen Maß an Erkenntnis, Heiligkeit und Kraft ausgerüstet, dass er das wahre Gute verstehen, schätzen, prüfen und tun in der Lage war, gemäß dem Gebot, das ihm überliefert wurde. Doch keine dieser Handlungen konnte er ohne den Beistand der göttlichen Gnade tun. Aber in seinem gefallenen sündhaften Zustand ist der Mensch nicht in der Lage, aus und durch sich selbst, einerseits über das nachzusinnen und das zu wollen, oder andererseits das zu tun, was wirklich gut ist; sondern es ist für ihn notwendig, von Gott in Christus durch den Heiligen Geist, wiedergeboren und in seinem Intellekt, seinen Gefühlen und in seinem Willen erneuert zu werden, sowie in allen seinen Kräften, damit er recht in die Lage versetzt wird, das wahre Gute zu verstehen, zu achten, zu prüfen, zu wollen und zu tun. Wenn er Anteil an dieser Wiedergeburt oder Erneuerung hat, dann betrachte ich den Menschen, da er von der Sünde befreit ist, als fähig, das was gut ist, zu denken, zu wollen und zu tun, aber dennoch nicht ohne die anhaltende Hilfe der göttlichen Gnade.[12]
Arminius glaubte jedoch, im Gegensatz zu Calvin, dass der Mensch einerseits der Gnade widerstehen kann und andererseits mit der Gnade kooperieren kann. Er erläuterte:
Ich attestiere der Gnade den Anfangspunkt, die Fortdauer und die Vollendung von allem Guten, und ich betrachte dies in einem solchen Maße, dass ein Mensch, obgleich bereits wiedergeboren, überhaupt weder irgendetwas Gutes ersinnen, wollen oder tun kann, noch irgendeiner bösen Versuchung widerstehen kann, ohne diese kooperierende Gnade. Aus dieser Aussage geht klar hervor, dass ich der Gnade keinesfalls Unrecht tue, indem ich, wie es berichtet wird, dem freien Willen des Menschen einen zu großen Stellenwert einräumen würde. Denn die ganze Kontroverse spitzt sich in einer Frage zu: Ist die Gnade Gottes eine unwiderstehliche Kraft? Das heißt, die Kontroverse hat keinen Bezug zu jenen Handlungen oder Verrichtungen, die der Gnade zugeschrieben werden, sondern sie bezieht sich auf die Art und Weise des Gnadenwirkens, ob diese unwiderstehlich ist oder nicht. Hinsichtlich von diesem glaube ich, gemäß der Schrift, dass viele Personen dem Heiligen Geist widerstehen und die Gnade, die ihnen angeboten wird, verwerfen.[13]
Die Irrlehre des Pelagius (ca. 350-420), jenes britischen Laienmönchs, der lehrte, dass der Mensch an sich gut sei und aus eigenem Vermögen Gottes Gebote halten könne, lehnte Arminius demnach entschieden ab. Arminius betonte in Bezug auf den Pelagianismus: „Ich habe bereits erschöpfend erklärt, wie sehr ich mich von solch einem Gedanken distanziere.“[14] Die pelagianische Irrlehre ist seiner Ansicht nach „sehr destruktiv, und sie fügt der Herrlichkeit Christi eine äußerst schmerzliche Wunde zu.“[15]
Im Denken des Arminius ist die Gnade und nicht der freie Wille der „Anfangspunkt, die Fortdauer und die Vollendung von allem Guten.“ Gott allein wirkt in seiner Gnade das Gute, das der Mensch aus seinem Vermögen nicht hervorbringen kann. Was Arminius von Calvin unterscheidet, ist, dass er dem Menschen die Entscheidungsfreiheit einräumt, sich für oder gegen die Gnade zu entscheiden – nicht mehr und nicht weniger. Es ist eine Verzerrung der arminianischen Lehre, wenn Calvinisten behaupten, Arminius schreibe dem Menschen die Fähigkeit zu, die Gnadenwirkungen aus menschlicher Willenskraft selbst hervorzubringen.
Johannes Calvin und die Souveränität Gottes
Johannes Calvin gelangt in seinen Formulierungen in Bezug auf die Lehre der göttlichen Souveränität zu systematischen und fest umrissenen Schlussfolgerungen. Für Calvin ist alles, was geschieht, selbst die bösen Handlungen des Menschen, nicht nur Vorsehung Gottes, sondern von Gott selbst verursacht, obgleich der Mensch aus seiner Sicht dennoch für sein Handeln selbst verantwortlich bleibt. Gott „lenkt mit dem Zügel seiner Vorsehung alle Ereignisse in der von ihm gewollten Weise,“[16] aber für Calvin gilt ebenso: „… der Mensch kommt also zu Fall, weil Gottes Vorsehung es so ordnet – der Mensch aber durch seine eigene Schuld fällt.“[17] Diese Widersprüchlichkeit ist typisches Kennzeichen der gesamten calvinistischen Theologie.
Calvin ist überzeugt, dass Gott in seiner Souveränität alles bei sich beschlossen hat und alles „in seiner verborgenen Leitung herbeiführt.“[18] Dass Gott in seiner Allwissenheit lediglich weiß, was geschehen wird und wie Menschen handeln werden, und dass Gott Ereignisse lediglich zulässt, verneinte Calvin. Er kam zu dem Schluss: „Wer an die Stelle der Vorsehung Gottes die bloße Zulassung setzt, der schwatzt und redet unnützes Zeug! Als ob Gott in ruhiger Betrachtung dasäße und die zufälligen Ereignisse abwartete!“[19]
Über den menschlichen Willen führte Calvin aus:
Gott bewegt den Willen. Aber das geschieht nicht, wie Jahrhunderte lang gelehrt und geglaubt worden ist, so, dass es dann in unserer Entscheidung stünde, dieser Bewegung Gehorsam oder auch Widerstand zu leisten; sondern er bewegt ihn so kräftig, dass er folgen muss. Wenn also Chrysostomus immerzu wiederholt: ,Gott zieht nur den, der da will,‘ so muss das abgelehnt werden. Denn er gibt damit zu verstehen, Gott strecke uns bloß die Hand entgegen und warte dann ab, ob es uns gefalle, uns von ihm helfen zu lassen![20]
Lediglich im Urzustand des Menschen vor seinem Sündenfall verfügte der Mensch über freien Willen:
In dieser ursprünglichen Reinheit war der Mensch im Besitz des freien Willens, so dass er das ewige Leben erlangen konnte, wenn er wollte. An dieser Stelle die Frage nach der verborgenen Prädestination Gottes zu stellen, wäre voreilig; denn es handelt sich hier nicht darum, was geschehen konnte und was nicht, sondern wie die Natur des Menschen tatsächlich beschaffen war. Adam konnte also in seiner ursprünglichen Unschuld bestehen, wenn er wollte; denn er fiel ja nur durch seinen eigenen Willen. Da allerdings sein Wille in jeder Richtung sich neigen konnte und ihm die Beständigkeit zur Beharrung nicht gegeben war, deshalb fiel er so leicht. Trotzdem, seine Entscheidung über Gut und Böse war frei, und nicht nur dies: in Verstand und Willen herrschte vollkommene Rechtschaffenheit, und alle sinnlichen Fähigkeiten waren fein zum Dienst eingerichtet – bis er sich selber verdarb und darüber seine Vorzüge verlor.[21]
Calvin betonte ausdrücklich, dass der Mensch nach dem Sündenfall über keinen freien Willen mehr verfüge:
Wer sich aber als Jünger Christi bekannt hat und trotzdem bei dem verlorenen und dem geistlichen Elend verfallenen Menschen noch den freien Willen sucht, auf diese Weise also zwischen der Meinung der Philosophen und der himmlischen Lehre sich teilt, der geht ganz in der Irre und verfehlt den Himmel und die Erde![22]
Über den Begriff der freien Wahlentscheidung (liberum arbitrium), wie ihn Augustinus im Sinne der Unentschuldbarkeit der menschlichen Sünde sowie im Sinne des sinnlosen und negativen Charakters der menschlichen Freiheit oder Emanzipation der Gerechtigkeit verwendet, schrieb Calvin sehr klar: „Ich bin aber der Meinung, dass man den Begriff nicht ohne unermessliche Gefahr beibehalten kann, und dass seine Abschaffung der Kirche großen Segen bringen würde; deshalb möchte ich ihn selbst nicht verwenden und auch anderen, wenn sie meinen Rat hören wollen, von seinem Gebrauch abraten.“[23]
Der Souveränitätsbegriff Calvins gründet sich auf die Überzeugung, dass Gott jedes Ereignis und jede Handlung des Menschen nicht nur vorherweiß, sondern sie letztlich verursacht und im Grunde damit determiniert. Calvin war stark von Augustinus und dessen Determinismus beeinflusst. Alle Ereignisse und Handlungen des Menschen in der Geschichte sind durch ein göttliches Dekret oder einen göttlichen Ratschluss kausal vorherbestimmt und festgelegt. Wäre es möglich, dass menschliches Handeln oder eine andere Ursache das Vorherbestimmtsein der Wirklichkeit durchbricht, wäre Gottes Souveränität beschädigt.
So gilt für Calvin: „So ist uns klar, dass nicht ein Regentropfen ohne Gottes gewissen Befehl herniederfällt.“[24] Selbst das Versiegen der Muttermilch wird von Gott in der Ewigkeit vorherbestimmt – und von Gott selbst verursacht. Da Gott „alles in seiner Vorsehung lenkt und alles so einrichtet, dass nichts ohne seinen Willen geschieht,“[25] ist es selbsterklärend, dass „eine Mutterbrust voll, die andere fast leer ist je nachdem Gott den einen Säugling reichlich, den anderen spärlich ernähren will.“[26] Über die fiktive Ermordung eines Kaufmanns durch eine Räuberbande schrieb Calvin: „Sein Tod war von Gottes Auge zuvor gesehen und auch durch seinen Ratschluss bestimmt.“[27] Alles, was geschieht, ist Gottes „tätiger Wille (actualis voluntas).“[28]
Evangelikaler Calvinismus und Souveränität
Der evangelikale Calvinismus tritt in die Fußstapfen Calvins. Der Calvinist R. C. Sproul schreibt:
Gibt es ein einziges Molekül in diesem Universum, das sich frei bewegt, völlig ungebunden in Bezug auf Gottes Souveränität, dann gibt es keine Garantie dafür, dass sich die Verheißungen Gottes jemals erfüllen. … Es kann sein, dass dieses eine Molekül die Sache sein wird, die die Wiederkunft Christi verhindert.“[29]
Die Logik ist einfach: Selbst die Bewegung eines Moleküls ist von Gott determiniert, vorherbestimmt; verhielte sich dies anders, wäre Gott nicht mehr souverän; und ist Gott nicht mehr souverän, könnten sich seine Verheißungen nicht erfüllen. Aus Sicht des Verfassers der vorliegenden Schrift scheint es angesichts der Allmacht Gottes und des Christus reichlich übertrieben, dass ein Molekül die Wiederkunft des Christus jemals verhindern könnte.
Der Calvinist John Piper ist überzeugt, dass Gott die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center „verordnete“ („ordained“). In einer Predigt legt John Piper dar:
Aber das ist es, was die Bibel lehrt. Gott ,wirkt alle Dinge nach dem Ratschluss seines Willens‘ (Epheser 1,11). Zu diesem ,alles‘ gehört das Fallen der Spatzen auf die Erde (Matthäus 10,29), das Werfen des Loses (Sprüche 16,33), das Abschlachten seines Volkes (Psalm 44,121), … die Krankheit eines Kindes (2Samuel 12,15), … das Leiden der Heiligen (1Petrus 4,19), die Vollendung der Reisepläne (Jakobus 4,15), die Verfolgung der Christen (Hebräer 12,4-7), die Umkehr der Seelen (2Timotheus 2,25), die Gabe des Glaubens (Philipper 1,29), das Streben nach Heiligkeit (Philipper 3,12-13), das Wachstum der Gläubigen (Hebräer 6,3), … und die Kreuzigung seines Sohnes (Apg 4,27-28). Vom Kleinsten bis zum Größten, Gutes und Böses, Glückliches und Trauriges, Heidnisches und Christliches, Schmerz und Vergnügen – Gott regiert sie alle zu seinen weisen und gerechten und guten Absichten (Jesaja 46,10). … Wir alle sind Sünder. Wir verdienen es, zugrunde zu gehen. Jeder Atemzug, den wir tun, ist ein unverdientes Geschenk. Wir haben eine große Hoffnung: dass Jesus Christus gestorben ist, um Vergebung und Gerechtigkeit für uns zu erlangen (Epheser 1,7; 2Korinther 5,21), und dass Gott seine alles überwindende, souveräne Gnade einsetzen wird, um uns für unser Erbe zu bewahren (Jeremia 32,40). Wir geben diese Hoffnung auf, wenn wir diese Souveränität opfern.[30]
Piper spricht demnach davon, dass Gott alle Ereignisse dieser Welt entwirft (designs), bestimmt (ordains) und lenkt (governs).
Auf seiner Webseite definiert John Piper Gottes Souveränität mit folgenden Worten:
Gott ist das einzige Wesen, das letztlich selbstbestimmend ist, und er selbst verfügt letztlich über die Verfügungsgewalt über alle Dinge, einschließlich aller Entscheidungen – wie zahlreich oder unterschiedlich auch immer andere Ursachen sein mögen. Nach dieser Definition verfügt kein menschliches Wesen zu irgendeinem Zeitpunkt über einen freien Willen. Weder vor oder nach dem Sündenfall, noch im Himmel sind Geschöpfe letztlich selbstbestimmend. Es existiert ein großes Maß an Selbstbestimmung, wie die Bibel oft zeigt, aber niemals ist der Mensch die letzte oder entscheidende Ursache seiner Vorlieben und Entscheidungen. Vergleicht man das Wirken des Menschen und das Wirken Gottes, sind beide real, aber das Wirken Gottes ist entscheidend.“[31]
In einem Artikel auf der Webseite von John Piper bestätigt John Talbot die Überzeugungen Pipers. Talbot war Redner auf der Desiring God-Konferenz im Jahre 2005. Diese Konferenzen wurden von John Piper ins Leben gerufen und finden jährlich statt. Talbot führt Epheser 1,11 an – in ihm, in welchem wir auch ein Erbteil erlangt haben, die wir vorherbestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt nach dem Ratschluss seines Willens – und kommt zu dem Schluss, dass Gott
… alle Dinge nach seinem Willen zustande bringt. Mit anderen Worten, es geht nicht nur darum, dass Gott es schafft, die bösen Seiten unserer Welt für diejenigen, die ihn lieben, zum Guten zu wenden; vielmehr bringt er selbst diese bösen Seiten zu seiner Verherrlichung (siehe 2Mose 9,13-16; Johannes 9,3) und zum Guten seines Volkes hervor (siehe Hebräer 12,3-11; Jakobus 1,2-4). Dazu gehört – so unglaublich und inakzeptabel es gegenwärtig auch erscheinen mag –, dass Gott sogar die Brutalität der Nazis in Birkenau und Auschwitz sowie die schrecklichen Morde an Dennis Rader und sogar den sexuellen Missbrauch eines kleinen Kindes herbeigeführt hat: Alles hat der HERR zu seinem bestimmten Zweck gemacht, sogar den Gottlosen für den Tag des Unheils (Sprüche 16,4). Am guten Tag sei guter Dinge, und am bösen Tag bedenke: Auch diesen hat Gott gemacht gleichwie jenen –wie ja der Mensch auch gar nicht herausfinden kann, was nach ihm kommt (Prediger 7,14).[32]
Talbot unterstreicht seine deterministische Sichtweise in einer weiteren Aussage:
Nichts, was existiert oder geschieht, liegt außerhalb von Gottes bestimmendem Willen (ordaining will). Nichts, einschließlich einer bösen Person oder Sache oder eines bösen Ereignisses oder einer bösen Tat. Gottes Vorherbestimmung ist der letztendliche Grund, warum alles zustande kommt, einschließlich der Existenz aller bösen Personen und Dinge und dem Eintreten aller bösen Handlungen oder Ereignisse. Daher ist es nicht unangemessen, Gott als den Schöpfer (creator), den Absender (sender), den Zulassenden (permitter) und manchmal sogar als den Anstifter (instigator) des Bösen zu betrachten. Das ist, was die Heilige Schrift ausdrücklich aussagt.[33]
Diesen Aussagen John Pipers und John Talbots müssen jedoch Schriftstellen entgegengehalten werden, die deren Auffassung von Souveränität in Frage stellen. Der Apostel Johannes schreibt: „Denn alles, was in der Welt ist, die Fleischeslust, die Augenlust und der Hochmut des Lebens, ist nicht von dem Vater, sondern von der Welt“ (1Joh 2,16). Und Jakobus lässt keinen Zweifel: „Niemand sage, wenn er versucht wird: Ich werde von Gott versucht. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen, und er selbst versucht auch niemand; sondern jeder Einzelne wird versucht, wenn er von seiner eigenen Begierde gereizt und gelockt wird“ (Jak 1,13-14). Sowohl Johannes als auch Jakobus betrachten Gott keineswegs als letztgültige Ursache des Bösen, sondern heben die Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung des Menschen hervor. Piper hingegen vertritt die Auffassung, dass der Mensch niemals „die letzte oder entscheidende Ursache seiner Entscheidungen“ ist. Wenn dies der Fall ist, dann ist zwangsläufig Gott die letzte oder entscheidende Ursache aller menschlichen Entscheidungen. Andernfalls, so die Überzeugung von Piper und Talbot, wäre Gottes Souveränität beschädigt.
Die calvinistisch-reformierte Theologie ist mehr oder weniger stark deterministisch geprägt. Der Determinismus ist eine philosophische Denkrichtung, die davon ausgeht, dass alle Ereignisse und Handlungen der Menschen kausal verursacht sind und einen unverrückbaren Verlauf nehmen. In der calvinistischen Theologie spielt die Souveränität Gottes dabei die entscheidende Rolle. Gottes Souveränität bestimmt alle künftigen Ereignisse und menschlichen Handlungen, die folglich notwendigerweise eintreten müssen. Wäre dies nicht der Fall, wäre Gottes Souveränität beeinträchtigt, so die Grundprämisse des Determinismus.
Dass hinsichtlich dieses Souveränitätsverständnisses der Calvinisten die Lehre vom freien Willen geradezu die Souveränität Gottes untergräbt, versteht sich von selbst. Nichtcalvinisten und Arminianer räumen im Unterschied zum Calvinismus dem freien Willen einen gewissen Spielraum ein, ohne dem Menschen die Fähigkeit zuzusprechen, sich aus freiem Vermögen das Heil anzueignen. Sie würden die Frage, ob Gott in seiner Souveränität dem gefallenen Menschen ein gewisses Maß an Freiheit einräumt, auf jeden Fall bejahen.
Gleichwohl verneinen Arminianer nicht, dass der menschliche Wille durch die Sünde geknechtet ist (Röm 6,16). Die eigentliche Frage ist, ob Gott dem Menschen, den er in seinem Ebenbild geschaffen hat, in diesem gefallenen Geknechtetsein unter die Sünde noch ein gewisses Maß an Willensfreiheit einräumt. Calvinisten verneinen dies, während Arminianer und andere nichtcalvinistische Denkrichtungen dies bejahen. Wie das Wirken der souveränen Gnade dennoch mit der Freiheit des – gleichwohl durch die Sünde geknechteten – Willens zusammenwirkt, zeigt Paulus, wenn er an die Philipper schreibt: „… verwirklicht eure Rettung mit Furcht und Zittern, denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als auch das Vollbringen wirkt nach seinem Wohlgefallen“ (Phil 2,12-13).
[1] Martin Heckel, Gesammelte Schriften: Band V: Staat – Kirche – Recht – Geschichte (Jus Ecclesiasticum, Band 73), Mohr Siebeck, Auflage: 1, 1. November 2004, S. 228.
[2] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 131-135.
[3] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 10436.
[4] James Nichols, The Works of James Arminius – Translated from The Latin, Derby and Miller, Auburn, 1853, S. 66.
[5] James Nichols, The Works of James Arminius – Translated from The Latin, Derby and Miller, Auburn, 1853, S. 51-52.
[6] James Nichols, The Works of James Arminius – Translated from The Latin, Derby and Miller, Auburn, 1853, S. 67-68.
[7] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 150.
[8] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 8552-8556.
[9] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 343.
[10] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 335-340.
[11] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 391.
[12] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 3422-3427.
[13] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 3437-3442.
[14] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 3487.
[15] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 3487.
[16] Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vluyn, 1988., I, 16,9, S. 112.
[17] Ebd., Institutio III, 23,8, S. 641.
[18] Ebd., Institutio I, 18,1, S. 125.
[19] Ebd., Institutio I, 18,1, S. 126.
[20] Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vluyn, 1988., II, 3,10, S. 273.
[21] Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vluyn, 1988., I, 15,8, S. 102.
[22] Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vluyn, 1988., I, 15,8, S. 102.
[23] Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vluyn, 1988., II, 2,8, S. 148.
[24] Ebd., Institutio I, 16,5, S. 108.
[25] Ebd., Institutio I, 16,3; S.106.
[26] Institutio I, 16,3 nach der Übersetzung von Friedrich Adolph Krummacher, Johannes Calvin des großen Theologen Institutionen der christlichen Religion – Erstes und Zweites Buch, Büschler´sche Verlagsbuchhandlung, Elberfeld, 1823, S. 180.
[27] Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vluyn, 1988, I, 16,9, S. 111.
[28] Ebd., Institutio I, 16,8, S. 110.
[29] R. C. Sproul, Chosen by God, Tyndale House Publishers, Illinois, 1994, S. 27.
[30] John Piper, Why I Do Not Say, „God Did Not Cause the Calamity, but He Can Use It for Good.“
URL: https://www.desiringgod.org/articles/why-i-do-not-say-god-did-not-cause-the-calamity-but-he-can-use-it-for-good. Abgerufen am 23.06.2020.
[31] John Piper, A Beginner’s Guide to ‘Free Will’.
URL: https://www.desiringgod.org/articles/a-beginners-guide-to-free-will. Aufgerufen am 22.07.2020.
[32] Mark Talbot, All the Good That Is Ours in Christ: Seeing God’s Gracious Hand in the Hurts Others Do to Us. Desiring God 2005 National Conference. Suffering and the Sovereignty of God. Artikel auf der Webseite von John Piper.
URL: https://www.desiringgod.org/messages/all-the-good-that-is-ours-in-christ-seeing-gods-gracious-hand-in-the-hurts-others-do-to-us. Aufgerufen am 22.07.2020.
[33] Mark Talbot, All the Good That Is Ours in Christ: Seeing God’s Gracious Hand in the Hurts Others Do to Us. Desiring God 2005 National Conference. Suffering and the Sovereignty of God. Artikel auf der Webseite von John Piper.
URL: https://www.desiringgod.org/messages/all-the-good-that-is-ours-in-christ-seeing-gods-gracious-hand-in-the-hurts-others-do-to-us. Aufgerufen am 22.07.2020.