Veröffentlicht am 17.01.2022

 

Es handelt sich bei der göttlichen Vorherbestimmung nicht um ewiges Leben oder um ewige Verdammnis, sondern lediglich um die Erwählung zum Dienst. Vielleicht darf man sagen, dass die meisten Stellen, die in der Schrift von der Erwählung handeln, es weniger mit dem ewigen Leben oder mit dem ewigen Tode zu tun haben, sondern mit der göttlichen Vorherbestimmung zum Dienst. So berief der Herr die jüdische Nation aus der Völkerwelt nicht, weil all die anderen Nationen für immer verworfen sein sollten, sondern damit Israel unter den Nationen zum Träger der Offenbarungen und des Heils Gottes dastehen sollte.[1] Jakob Kroeker

Das Sprichwort „Der Zweck heiligt die Mittel“ gibt es in bejahender wie auch in verneinender Form. Nicht immer heiligt der Zweck jedes Mittel. In der calvinistischen Heilsordnung wird der Mensch zuerst durch unwiderstehliche Gnade wiedergeboren und mit dem Heil beschenkt, das ihm als Erwählter vor Grundlegung der Welt durch den souveränen Ratschluss Gottes vorherbestimmt war, so die calvinistische Heilslehre. Erst nach der Wiedergeburt, so der Calvinismus, kann der Mensch glauben und Buße tun. Die Wiedergeburt durch unwiderstehliche Gnade geht dem Glauben demzufolge voraus. Nach arminianischer Auffassung verhält es sich gerade andersherum. Der Glaube geht der Wiedergeburt voraus. Dass der Mensch dennoch nicht aus eigenem Vermögen glauben kann, sondern der Glaube allein durch das Wirken des Heiligen Geistes und der Gnade gewirkt wird, stand auch für Arminius außer Frage. Im Unterschied zum Calvinismus räumte er der menschlichen Willensfreiheit und Selbstbestimmung jedoch ein gewisses Maß an Mitwirkung ein.

Jacobus Arminius schreibt:

Wenn eine Person sagt: ,Gott will den Zweck, bevor er die zum Zweck führenden Mittel will, aber das Heil ist der Zweck, und der Glaube ist das zum Zweck führende Mittel,‘ antworte ich, erstens, das Heil ist nicht der Zweck Gottes; sondern das Heil und der Glaube sind Gaben Gottes, zusammengebunden und miteinander vereinigt durch den Willen Gottes gemäß dieser Reihenfolge, wonach der Glaube dem Heil vorausgeht, sowohl hinsichtlich Gott, dem Geber der Gabe, als auch hinsichtlich der Realität. Zweitens, Glaube ist eine BEDINGUNG, die Gott von dem fordert, der errettet werden soll, bevor er zu einem MITTEL wird, dieses Heil zu empfangen. Da Gott niemandem das Heil verleihen wird außer demjenigen, der willig ist zu glauben, weil dieser weiß, dass das Heil sein höchstes Gut ist, deshalb empfängt der Mensch durch das Mittel des Glaubens das Heil als den Zweck, weil er weiß, dass er das Heil nicht empfangen kann, es sei denn durch dieses Mittel. Und dieses Wissen eignet er sich nicht selbst an, es sei denn ihm wird der göttliche Wille verkündigt, durch den Gott Glauben von jenen fordert, die errettet werden wollen.[2]

In Kapitel 1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass Arminius die pelagianische Irrlehre, der Mensch könne sich aus eigenem Vermögen das Heil verdienen, eindringlich ablehnte. Der freie Wille des Menschen war nach Auffassung von Arminius weder in der Lage, sich Gott zuzuwenden, noch aus eigenem Vermögen Gutes zu tun. Allein die Gnade, die mit dem freien Willen zusammenwirkt, konnte seiner Ansicht nach wahre Geisteswirkung entfalten. Über die Beziehung zwischen Gnade und freier Wille schreibt Arminius:

Der freie Wille ist unfähig, irgendetwas geistlich Gutes zu beginnen oder zu vollenden. Damit man von mir nicht sagt, wie etwa von Pelagius, dass ich in Bezug auf das Wort Gnade andere täusche, meine ich mit dem Wort Gnade die Gnade Christi, die zur Wiedergeburt führt. Ich bekräftige daher, dass diese Gnade einfach und absolut notwendig ist, um den Geist zu erleuchten, und um das innere Verlangen und die Neigung des Willens zu ordnen, damit der Mensch tut, was gut ist. Es ist diese Gnade, die auf den Verstand, das Gefühl und den Willen einwirkt, die gute Gedanken in den Verstand zufließen lässt, gute Wünsche in die Empfindungen zufließen lässt und den Willen beugt, gute Gedanken und gute Strebungen in die Tat umzusetzen. Diese Gnade geht voraus, begleitet und folgt; sie motiviert, unterstützt, wirkt so, dass wir wollen und kooperieren, damit wir nicht vergeblich handeln. Sie wendet Versuchungen ab, hilft und gewährt Beistand inmitten von Versuchungen, unterstützt den Menschen gegen das Fleisch, die Welt und Satan und gewährt dem Menschen in diesem großen Kampf den Genuss des Sieges. Sie richtet die Besiegten und Gefallenen wieder auf, gibt ihnen neue Kraft und stärkt sie und macht sie umsichtiger. Mit dieser Gnade nimmt die Erlösung ihren Anfang, sie fördert sie und vervollkommnet und vollendet sie. Ich bezeuge, dass der Geist eines natürlichen und fleischlichen Menschen dunkel und verfinstert ist, dass sein Fühlen verdorben und ungebührlich ist, dass sein Wille hartnäckig und ungehorsam ist und dass der Mensch selbst in seinen Sünden tot ist. Und ich füge dem hinzu, dass der Lehrer meine höchste Anerkennung erhält, der die göttliche Gnade so viel wie möglich hochhält.[3]

Von der Souveränität Gottes zu sprechen, rückt automatisch die Frage des freien Willens und der Heilsaneignung des Menschen sowie die Frage der Erwählung in den Blickpunkt. Über einen freien Willen in Bezug auf die Heilsaneignung verfügt der Mensch aus calvinistischer Sichtweise definitiv nicht. Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln ausgeführt, ist die reformiert-calvinistische Theologie mehr oder weniger stark deterministisch geprägt. Wie im Folgenden gezeigt wird, und in dieser Schrift bereits gezeigt wurde, sind sich einige reformierte Theologen dessen durchaus bewusst. Die Gebrüder Thomas und David Torrance, beide reformierte Theologen der Kirche Schottlands, haben in besonderer Weise mit den deterministischen Prägungen calvinistischer Theologie gerungen und versucht, diesen nicht nur zu überwinden, sondern auch eine biblisch fundierte Theologie zu formulieren.

 

Den Determinismus des klassischen Calvinismus überwinden

Der reformierte Theologe Myk Habets schreibt durchaus selbstkritisch: „Die Lehre der Erwählung wird oft als zentrales Dogma der reformierten Theologie betrachtet. Während diese Einschätzung natürlich unzutreffend ist, ist die Lehre der Erwählung in der reformierten Theologie wesentlich. Zahlreiche Erörterungen der Erwählung wurden von reformierten Theologen vorgestellt, unter denen viele in die Kategorie des Determinismus und manchmal des Fatalismus eingeordnet werden müssen.“[4] Dies gelte, so Habets, vor allem für den „scholastischen bundestheologischen Calvinismus.“[5] Aus Sicht Habets gilt es, den „harten Determinismus des klassischen Calvinismus zu überwinden,“[6] um einen evangelikalen Calvinismus zu formulieren.

In einem Essay legt Habets die Erwählungslehre des reformierten Theologen Thomas F. Torrance dar. Der schottische Theologe vertritt die reformierte Lehre der bedingungslosen Erwählung und kommt aufgrund seiner biblischen Studien zu dem Schluss, dass „göttliche Erwählung eine freie souveräne Entscheidung und das absolut bedingte Handeln von Gottes Liebe ist; als solches ist es weder willkürlich, noch geht davon unbedingt Zwang aus.“[7] Damit vermeidet der reformierte Theologe den harten Determinismus des Calvinismus.

Torrance unterscheidet zwischen Prädestination und Erwählung. Prädestination bedeutet für ihn einfach, dass Gott uns in Christus vor Grundlegung der Welt erwählt hat. Der ewige Ratschluss wurde vom Vater nicht gefasst ohne Einmütigkeit mit dem Sohn. Der Vater tut sozusagen nichts hinter dem Rücken des Sohnes. Die Prädestination, so Torrance, bezieht sich auf den ewigen Ratschluss der Liebe Gottes für die Menschheit, während der Begriff Erwählung den Heilsplan Gottes in der Zeitlichkeit beschreibt, der in Christus seinen Höhepunkt findet. Erwählung ist aus der Sicht von Torrance christologisch bedingt.

Für Torrance ist die Menschwerdung Christi das Herz der Erwählung. Erwählung geschieht demnach stets in Christus. Sowohl Prädestination als auch Erwählung können nur in christologischer Weise erfasst werden. „Somit hat die Prädestinationslehre zwei Seiten: das Heil des Gläubigen geht auf den ewigen Ratschluss Gottes zurück, und doch geschieht der Akt der Erwählung in und durch Christus.“[8] Da die Erwählung in Christus geschieht, muss sie nicht als unpersönlich oder absolut deterministisch betrachtet werden. Wenn Gott der Menschheit in Christus begegnet, dann ist dies die Antithese zum Determinismus, so der Theologe.

Habets führt in Bezug auf die Kritik von Torrance am scholastischen Calvinismus aus:

Aufgrund der Übernahme des deterministischen Denkens in den protestantischen Scholastizismus – Torrance betrachtet dies als eine künstliche Übernahme des griechischen Determinismus – wird die Erwählung oft mit Begriffen wie Ursache oder Zwang in Verbindung gebracht. Aber dies bedeutet, dass wir unsere Gedanken Gott überstülpen und in diesem Zuge die Erwählungslehre verzerren. An dieser Stelle wird Torrance sehr energisch: ,Folglich, zum Beispiel, was die Lehre der absoluten partikularen Prädestination angeht [Gott erwählt einzelne Personen zum Heil], besteht die Tendenz, Gott als eine höhere Gewalt zu betrachten, die die einzelnen Individuen überwältigt. Dies kommt einer Auffassung von Allmacht gleich, die nichts weiter als ein leeres mathematisches Symbol ist.‘ … Allmacht, zum Beispiel, ist das, was Gott tut, nicht das, was man von Gott denkt, dass er es tun kann aufgrund eines hypothetischen, metaphysischen kann. Was Gott tut, wird in Christus sichtbar.[9]

Alle Menschen, so Torrance, sind in Bezug auf die Person des Christus zugleich erwählt und verdammt. Wenn der Mensch mit Gott konfrontiert wird, wird er zum ersten Mal frei, sich für Gott zu entscheiden. Die persönliche Begegnung des Menschen mit Christus, der ihm Vergebung anbietet, verleiht dem Menschen die Freiheit, Ja oder Nein zu sagen. Torrance ist keineswegs der Auffassung, der Mensch verfüge über freien Willen, die göttliche Gnade oder das Heil aus sich selbst anzunehmen. Entscheidend ist die Christusbegegnung. Nur in dieser Begegnung mit dem Christus hat der Mensch einen freien Willen.

Den zwanghaften, kausalen Erwählungsbegriff lehnt Torrance ab. Erwählung muss aus seiner Sicht stets mit Blick auf die Menschwerdung Christi verstanden werden. Habets fasst zusammen:

Torrance verwirft einerseits die im reformierten Denken weitverbreitete Vorstellung, dass es eine Erwählung zum Leben und eine Erwählung zum Tod gibt und dass dies im kausalen und deterministischen Sinne verwirklicht wird. Auf der anderen Seite verwirft er die arminianische Vorstellung, dass die Menschen in einer neutralen Position sind und aus freiem Willen auf das Evangelium reagieren können, um dieses anzunehmen und errettet (erwählt) zu werden, oder dass sie dem Evangelium aus freiem Willen widerstehen können, um verdammt (verworfen) zu werden. Torrance legt dar, dass das Wort Prädestination die souveräne Freiheit der Gnade betont, und folglich bezieht sich das Prä– in Prädestination weder auf eine zeitliche noch eine logische Ebene, sondern einfach auf Gott, den Ewigen, selbst. … Das Prä– in Prädestination bezieht sich somit auf den Willen Gottes, die Menschheit in Christus zu erretten. Erwählung ist ein anderes Wort für Gottes Entscheidungsfreiheit oder seinen Entschluss. Gott handelt weder willkürlich noch durch Zwang, sondern aufgrund seiner persönlichen Entscheidung. Erwählung ist Gottes persönliche Entscheidung.[10]

Damit ist Erwählung für Torrance kein Geschehen in der Vergangenheit. Da Erwählung nur in Christus geschieht, und da Christus sich in Raum und Zeit offenbarte, hat die Erwählung nach seiner Auffassung einen zeitlichen Aspekt. Es ist der Wille Gottes, die Menschen in Christus zu erretten, weil Gott die Menschen liebt. Der freie Wille des Menschen in der Christusbegegnung ist aber für Torrance unverbrüchlich mit der Gabe des Glaubens durch das souveräne Wirken des Heiligen Geistes verbunden. Demzufolge ist der freie Wille des Menschen niemals die letztgültige Ursache für die Errettung.

Der Mensch, so Torrance, kooperiere demnach mit der Gnade. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn der Mensch Christus begegnet. Dennoch sei diese Auffassung nicht pelagianisch, betont Torrance, denn das menschliche Handeln kann auch aus seiner Sicht das Heil keineswegs wirken. Nach Epheser 2,8 kommt Vergebung und ewiges Leben allein durch Gnade und allein durch die Gabe des Glaubens. Torrance bezeichnet seine Auffassungen als evangelikalen Calvinismus.

Dieser kleine Ausflug in das neuere reformatorische Denken zeigt, dass der oft strikt kausale Determinismus, der in einem ewigen Ratschluss eines souveränen Gottes begründet ist, nicht von allen reformierten Theologen geteilt wird. Für Calvin, und auch Augustinus, waren alle Ereignisse und Handlungen des Menschen bereits in der Ewigkeit angelegt. Wie ein Drehbuch aus der Ewigkeit muss sich all dies in Raum und Zeit verwirklichen. Jegliche Abweichung von diesem ewigen Drehbuch verletze die Souveränität Gottes. Diese Auffassung bestimmte das Denken Calvins, und es bestimmt das Denken vieler moderner Calvinisten.

Die Bibel betont nicht einen kausalen Determinismus, der in mathematischer Unerbittlichkeit aufgrund des souveränen Ratschluss Gottes ausgeführt wird, sondern sie hat die Liebe des Vaters zum Zentrum der göttlichen Offenbarung gemacht. Es ist die Botschaft des Evangeliums, die alle Menschen erreichen und erretten will. Der Vater sendet in seiner Liebe den Sohn in diese gefallene Welt, um alle Menschen zu erretten die sich ihm zuwenden. Alles Heilshandeln Gottes muss von der Menschwerdung Christi und der barmherzigen Liebe Gottes her begriffen werden und nicht, wie die calvinistische Tradition es lehrt, von einem unerbittlichen, in der Ewigkeit gefassten Ratschluss her.

 

Allgemeiner Ruf oder wirksamer Ruf

Wenn Calvinisten lehren, dass Gott die einen vor Grundlegung der Welt zum Heil prädestiniert, die anderen verwirft oder übergeht, dann müssen sie erklären, welche Rolle die Evangeliumsverkündigung im Heilsgeschehen spielt. Diejenigen, die Gott verwirft oder übergeht, können aufgrund des souveränen Ratschlusses ohnehin nicht auf das Evangelium reagieren und errettet werden. Andernfalls wäre Gott nicht mehr souverän. Aus diesem Grund formulierten Calvinisten folgenden Erklärungsversuch. Man müsse zwischen einem allgemeinen Ruf, der Verkündigung des Evangeliums allen Menschen, und einem wirksamen Ruf, der Verkündigung des Evangeliums an die Erwählten, unterscheiden. Wenn der wirksame Ruf lediglich an die Erwählten gerichtet ist, weil nur diese darauf reagieren können, was aber ist dann der Sinn des allgemeinen Rufs? Braxton Hunter kommt zu dem Schluss:

Zwei mögliche Gründe für den allgemeinen Ruf könnten angeführt werden. Es könnte sein, dass der allgemeine Ruf lediglich ein Nebenprodukt der Verkündigung des Wortes an die Erwählten ist. Beim Versuch, das Evangelium zu verbreiten, damit die Erwählten darauf reagieren, erreicht die Botschaft auch die Nicht-Erwählten. Sie hören, können aber nicht auf die Botschaft reagieren… Vielleicht existiert der allgemeine Ruf, damit die Schuld jener, die die Botschaft nicht annehmen, noch deutlicher zutage tritt. Wenn dies jedoch der Fall ist, müssen wir erneut auf die Problematik verweisen, die wir zuvor angeführt haben. Sie werden noch immer dafür bestraft, dass sie sich für A anstatt für C entschieden haben, obgleich C für sie gar nicht erreichbar war. Ganz gleich, wie man es betrachtet, welchen Sinn macht ein allgemeiner Ruf?[11]

 

Die Goldene Kette des Heils

 Römer 8,29-30 Denn die er zuvor ersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dem Ebenbild seines Sohnes gleichgestaltet zu werden, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen, die er aber berufen hat, die hat er auch gerechtfertigt, die er aber gerechtfertigt hat, die hat er auch verherrlicht. Diese Schriftstelle wird von Calvinisten als Beleg für die Unterscheidung angeführt, um zwischen dem allgemeinen Ruf Gottes an die Nicht-Erwählten und den wirksamen Ruf Gottes an die Erwählten zu unterscheiden. Dieser Text wird auch als „Goldene Kette des Heils“ bezeichnet.

John Piper bezeichnet diesen Text sogar als „die wahrscheinlich wichtigste Schriftstelle für die bedingungslose Erwählung.“[12] Piper erläutert:

Zwischen dem Akt der Prädestination und der Rechtfertigung, liegt der Akt der Berufung. Da Rechtfertigung nur durch Glauben geschieht, muss die Berufung, um die es hier geht, ein Akt Gottes sein, durch den er Glauben schafft.  Und da dies immer in der Rechtfertigung endet (alle Berufenen werden gerechtfertigt), muss dieser Akt souverän sein. Das heißt, er überwindet jeden Widerstand, der sich ihm in den Weg stellt. Folglich ist die Berufung in Vers 30 das souveräne Werk Gottes, die eine Person zum Glauben bringt, durch den sie gerechtfertigt wird.[13]

Piper weiß sehr wohl, dass dieser Text auf Grundlage von Vers 29 – Denn die er zuvor ersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt – auch als Argument gegen bedingungslose Erwählung angeführt wird, da Gott zuvor diejenigen ersehen hat (zuvor erkannt hat/zuvor weiß), die auf den Ruf Gottes reagieren. Gott weiß zuvor (proginosko), wer sich bekehrt. Während für Piper feststeht, dass die Berufung und Erwählung des Gläubigen ein Akt unwiderstehlicher souveräner Gnade sein muss, lehren Nichtcalvinisten, dass Gottes Vorwissen (Vorkenntnis) der Vorherbestimmung vorangeht.

Letzteres bedeutet, dass Menschen, die nach dem Vorherwissen Gottes glauben werden, vorherbestimmt sind, in das Ebenbild Christi verwandelt zu werden. Diese also, von denen Gott weiß, dass sie sich bekehren werden, sind vorherbestimmt. Zu was? Sie sind vorherbestimmt, in das Ebenbild seines Sohnes umgestaltet zu werden. Von einer Vorherbestimmung zum Heil oder zur ewigen Verwerfung oder Verdammnis spricht diese Schriftstelle indessen nicht. Sie zeigt Gottes Heilsplan mit denen, die nach ewiger Vorkenntnis oder ewigem Vorwissen Gottes zum rettenden Glauben kommen.

 

Calvinistische Heilsordnung

Bedingungslose Erwählung in der Ewigkeit (Prädestination/Vorherbestimmung zum Heil) → Erlösungswerk Christi am Kreuz für die Erwählten → wirksamer Ruf und Wiedergeburt durch unwiderstehliche Gnade → Bekehrung → Rechtfertigung → Heiligung → Verherrlichung.

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Verwerfung (Doppelte Prädestination: Prädestination zur ewigen Verdammnis) bzw. Übergehen der Nicht-Erwählten in der Ewigkeit → allgemeiner Ruf → Verwerfung des Evangeliums → ewige Verdammnis.

Arminianische Heilsordnung

Bedingte Erwählung in Christus in der Ewigkeit (jeder Mensch kann in Christus durch Glauben das Heil empfangen) → Erlösung Christi am Kreuz als Heilsangebot an alle Menschen → Ruf Gottes an alle Menschen (Entscheidung und Verantwortung des Menschen) → Glaube an Jesus Christus → Wiedergeburt → Rechtfertigung → Heiligung → Verherrlichung.

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Bedingte Erwählung → Erlösung Christi am Kreuz als Heilsangebot an alle Menschen → Ruf Gottes an alle Menschen (Entscheidung und Verantwortung des Menschen) → Unglaube und Verwerfung Christi → ewige Verdammnis.

Aber hatte Paulus tatsächlich die calvinistische Lesart der Heilsordnung im Sinn, als er Römer 8,29-30 niederschrieb? Ist es von Bedeutung, dass Paulus unter der Inspiration des Heiligen Geistes das Vorwissen Gottes in seiner goldenen Kette des Heils zuerst und damit vor der Vorherbestimmung erwähnt? Auch der Calvinist R. C. Sproul weiß um diese Schwierigkeit, die der Text mit sich bringt und versucht zu erklären:

Wir sehen in diesem Text, dass Gottes Vorwissen seiner Vorherbestimmung vorangeht. Diejenigen, die die Auffassung von Gottes Vorwissen vertreten, gehen davon aus, dass Vorwissen die Grundlage der Vorherbestimmung ist, da Vorwissen der Vorherbestimmung vorangeht. Paulus sagt dies nicht. Er sagt einfach, dass Gott die vorherbestimmt, die er zuvor erkannte. Wen sonst könnte er möglicherweise vorherbestimmen? Bevor Gott irgendjemand zu irgendetwas berufen kann, muss er sie als Objekte seiner Erwählung im Sinn haben. … Also spricht Römer 8,29-30 tatsächlich gegen die Erwählung auf der Grundlage von Gottes Vorwissen.[14]

Laut Sproul wollte Paulus in diesen Versen zum Ausdruck bringen, dass Gott vorherweiß, welche Person er erwählen wird, bevor er diese Person „als Objekt seiner Erwählung“ ausersieht. Doch Calvinisten würden Sproul in der Regel widersprechen, da sie gemeinhin die gegenteilige Auffassung vertreten, nämlich dass Gott in seinem Vorwissen nur die erkennt, die er erwählt, weil er sie vor Grundlegung der Welt erwählt hat. In der calvinistischen Heilsordung steht die Vorherbestimmung (Prädestination) vor dem Vorwissen und vor der Erwählung. Sproul hingegen ist überzeugt, dass Gott Personen in seinem Vorwissen vor der Vorherbestimmung erwählt.

Calvinisten argumentieren, wenn Menschen sich im Glauben frei für Gott entscheiden und Gott lediglich über Vorwissen verfügt, wer zum Glauben komme, dann wäre Gott dem Willen der Menschen unterworfen und könne nicht mehr souverän sein. Gott würde somit zu einem Zuschauer herabgewürdigt, der nichts weiter tun kann, als auf die freien Willensentscheidungen des Menschen zu reagieren. Gott wäre folglich an sein Vorwissen gebunden und müsste Dinge tun, die seinem Ratschluss widersprechen.

Vertritt man eine schriftgemäße Lehre der Heilsordnung, muss man aufgrund dieses Spannungsfeldes zwischen göttlicher Souveränität und menschlicher Willensfreiheit Antworten auf die oben gestellten Fragen geben. Die Lösung liegt in einem Mittelweg zwischen Calvinismus und Arminianismus. Wenn Sproul behauptet, Paulus sage nicht, dass das Vorwissen der Vorherbestimmung vorangehe, dann irrt er. Der Text ist unzweifelhaft in seiner Aussage. Daher muss die Lösung des obigen Problems allein in der Schrift gesucht und gefunden werden. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn man sowohl die arminianische als auch die calvinistische Brille, die Vorannahmen beider theologischer Lager, beiseitelegt.

Die goldene Kette des Heils beginnt mit dem Vorwissen und endet mit der Verherrlichung. Calvinisten wie Arminianer stimmen darin überein, dass Gott über ewiges Vorwissen verfügt. Die Objekte des göttlichen Vorwissens und der göttlichen Vorherbestimmung sind jene Menschen, die aus allen Menschen verherrlicht werden. Wenn Vorwissen jedoch mehr ist als lediglich im Voraus zu wissen, was geschieht, also in der semitischen Bedeutung verwendet wird, jemanden im Voraus in tiefer Gemeinschaft zu lieben (im Voraus erkennen), wie Calvinisten lehren, dann hatte Paulus den Leib Christi als die Braut Christi im Sinn.

Ganz gleich, von welcher Warte aus diese Schriftstelle betrachtet wird – durch die calvinistische Brille des Vorhererkennens im Sinne inniger Liebe und Vereinigung der Brautgemeinde mit dem Bräutigam Christus oder durch die arminianische Brille des ewigen göttlichen Vorwissens –, der Apostel Paulus bezieht sich auf Jesus Christus als den eigentlichen Erwählten. Der einzelne Mensch wird zu einem Erwählten, nicht durch einen ewigen göttlichen Ratschluss, wie der Calvinismus es lehrt, sondern dadurch, dass er durch Glauben Glied des Leibes Christi wird. Gott erwählt oder prädestiniert Menschen nicht, in Christus zu sein. Er erwählt Jesus Christus vor Grundlegung der Welt, und alle Menschen, die sich Christus im Glauben zuwenden, werden als Glieder am Leib Christi zu Erwählten. Erwählung ist demnach nicht Erwählung zum ewigen Leben, sondern Erwählung zur Gliedschaft am Leib Christi.

Somit bleibt Gottes Souveränität in seinem erwählten Sohn Jesus Christus unangetastet, da Gott sich nicht von menschlicher Willensfreiheit abhängig macht, sondern seinen in der Ewigkeit gefassten Ratschluss in seinem Sohn Jesus Christus erfüllt. Der unwiderrufliche Ratschluss Gottes besteht darin, dass Gott diejenigen, die er zuvor ersehen hat, auch vorherbestimmt, dem Ebenbild seines Sohnes gleichgestaltet zu werden, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die Berufenen sind die Gläubigen, die Gottes Ratschluss verwirklichen. Im obigen Diagramm wurde die calvinistische und arminianische Heilsordnung dargestellt. Im Folgenden soll die biblische Heilsordnung verdeutlicht werden:

 

Biblische Heilsordnung

Vorwissen (Vorauserkennen) → Vorherbestimmung → Verkündigung des Evangeliums unter dem Wirken des Heiligen Geistes → Berufung → Glaube → Wiedergeburt und Rechtfertigung → Treue/Glaubensgehorsam → Heiligung → Verherrlichung

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Vorwissen (Vorauserkennen) → Vorherbestimmung → Verkündigung des Evangeliums unter dem Wirken des Heiligen Geistes → Unglaube und Verwerfung Christi → ewige Verdammnis

 

Gott beruft die Gläubigen, in das Ebenbild seines Sohnes umgestaltet zu werden, damit Christus der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei. In obiger Darstellung der goldenen Kette des Heils wurden diejenigen Elemente aufgenommen, die das Neue Testament lehrt, aber welche Paulus in der Schriftstelle in Römer 8,29-30 nicht erwähnt. Es handelt sich um die Verkündigung des Evangeliums, den Glauben als Entscheidung des Menschen und die Heiligung. All dies ist Gottes Gabe aus Gnaden (Eph 2,8).

Warum versäumte Paulus es in Römer 8,29-30, alle Glieder der goldenen Kette des Heils anzuführen? Einerseits setzte Paulus das Wissen um die anderen Glieder der Heilskette voraus, da er in seinen Briefen darüber ausführlich geschrieben hatte, andererseits legte er in Römer 8,29-30 größere Betonung auf das göttliche Heilswirken als auf die menschliche Seite der Heilsaneignung. Die Wiedergeburt, die Berufung und die Rechtfertigung ereignen sich gleichzeitig und folgen dem Glauben, während sie der Heiligung vorausgehen.

Römer 8 betont die göttliche Seite des Heilsplans und geht demnach nicht näher auf die menschliche Verantwortung ein, Jesus zu glauben oder sich durch Glaubensgehorsam im Dienste Jesu zu heiligen. Paulus betont folglich Gottes Rolle, während er nichts zur menschlichen Rolle sagt. Dies bedeutet nicht, dass diese bei der Heilsaneignung keine Rolle spielt. Im Erlösungsplan Gottes ist es Gott allein, der vorhererkennt und vorherweiß, was er in seinem Sohn Jesus Christus tun wird und was er gemäß diesem Ratschluss ausführen wird, ohne dass Menschen seine Pläne durchkreuzen und seine Souveränität damit in Frage stellen können. Gott beruft die Gläubigen, ihm zu dienen, er rechtfertigt die, die an seinen Sohn Jesus Christus glauben, und er wird die verherrlichen, die er gerechtfertigt hat.

Paulus hat nicht einen ewigen Ratschluss im Sinn, durch welchen er die einen zum Heil vorherbestimmt und die anderen verwirft oder übergeht, sondern Gott hat in der Ewigkeit die Gläubigen vorherbestimmt, in das Ebenbild seines Sohnes umgestaltet zu werden, was letztlich in ihrer Verherrlichung vollkommene Erfüllung finden wird (Eph 1,4; 4,1; 5,27; Kol 1,22-23). Das Vorwissen (Vorhererkennen) Gottes ist somit Gottes ewiger Heilsplan, der im Evangelium verkündigt wird. Die Frohe Botschaft der Goldenen Kette des Heils zeigt, wie der barmherzige Gott an jenen handeln wird, die zum Glauben kommen werden.

 

[1] Jakob Kroeker, Das Wachstum des Glaubens, Brunner Verlag, Gießen und Basel, 1969, S. 82.

[2] James Arminius, Works of James Arminius, Vol. 1-3, Kindle-Ausgabe, 1. März 2010, Location 3932-3942.

[3] James Nichols, The Works of James Arminius – Translated from The Latin, Derby and Miller, Auburn, 1853, S. 472-473.

[4] Myk Habets, „There is no God behind the back of Jesus“ – Christologically Conditioned Election, in: Evangelical Calvinism: Essays Resourcing the Continuing Reformation of the Church, eds. Myk Habets & Bobby Grow, Pickwick Publications, an Imprint of Wipf and Stock Publishers, Eugene, OR, 2012, Kindle, S. 173.

[5] Myk Habets, „There is no God behind the back of Jesus“ – Christologically Conditioned Election, in: Evangelical Calvinism: Essays Resourcing the Continuing Reformation of the Church, eds. Myk Habets & Bobby Grow, Pickwick Publications, an Imprint of Wipf and Stock Publishers, Eugene, OR, 2012, Kindle, S. 173.

[6] Myk Habets, „There is no God behind the back of Jesus“ – Christologically Conditioned Election, in: Evangelical Calvinism: Essays Resourcing the Continuing Reformation of the Church, eds. Myk Habets & Bobby Grow, Pickwick Publications, an Imprint of Wipf and Stock Publishers, Eugene, OR, 2012, Kindle, S. 173.

[7] Myk Habets, „There is no God behind the back of Jesus“ – Christologically Conditioned Election, in: Evangelical Calvinism: Essays Resourcing the Continuing Reformation of the Church, eds. Myk Habets & Bobby Grow, Pickwick Publications, an Imprint of Wipf and Stock Publishers, Eugene, OR, 2012, Kindle, S. 174.

[8] Myk Habets, „There is no God behind the back of Jesus“ – Christologically Conditioned Election, in: Evangelical Calvinism: Essays Resourcing the Continuing Reformation of the Church, eds. Myk Habets & Bobby Grow, Pickwick Publications, an Imprint of Wipf and Stock Publishers, Eugene, OR, 2012, Kindle, S. 176.

[9] Myk Habets, „There is no God behind the back of Jesus“ – Christologically Conditioned Election, in: Evangelical Calvinism: Essays Resourcing the Continuing Reformation of the Church, eds. Myk Habets & Bobby Grow, Pickwick Publications, an Imprint of Wipf and Stock Publishers, Eugene, OR, 2012, Kindle, S. 177.

[10] Myk Habets, „There is no God behind the back of Jesus“ – Christologically Conditioned Election, in: Evangelical Calvinism: Essays Resourcing the Continuing Reformation of the Church, eds. Myk Habets & Bobby Grow, Pickwick Publications, an Imprint of Wipf and Stock Publishers, Eugene, OR, 2012, Kindle, S. 187.

[11] David L. Allen, Eric Hankins and Adam Harwood, eds., Anyone Can Be Saved, A Defense of „Traditional“ Southern Baptist Soteriology, Wipf and Stock, Eugene, OR, 2016, S. 125.

[12] John Piper, What We Believe About the Five Points of Calvinism, 1. März 1985.

URL: https://www.desiringgod.org/articles/what-we-believe-about-the-five-points-of-calvinism. Aufgerufen am 30.07.2020.

[13] John Piper, What We Believe About the Five Points of Calvinism, 1. März 1985.

URL: https://www.desiringgod.org/articles/what-we-believe-about-the-five-points-of-calvinism. Aufgerufen am 30.07.2020.

[14] R. C. Sproul, Grace Unknown: The Heart of Reformed Theology, Revell, Baker Publishing Group, Ada, MI, 1997, S. 143.