02. Mai 2021

Missionale Pneumatologie: Das Fließen des Geistes in Gefühlen und Gedanken

Rezension des Buches Geist Gottes – Quelle des Lebens: Grundlagen einer missionalen Pneumatologie von Heinrich Christian Rust

Georg Walter

 

Auf der Höhe internationaler Diskussion: Auf der Höhe der Bibel?

Heinrich Christian Rust (geb. 1953) ist Autor und seit 2003 Pastor einer charismatisch ausgerichteten evangelischen Freikirche in Braunschweig, die dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) angehört. Rust war Sprecher des Kreises Charismatischer Leiter sowie Sprecher und Koordinator der Geistlichen Gemeindeerneuerung in der BEFG. Er arbeitete im Theologischen Ausschuss der Lausanner Bewegung mit und engagiert sich im Institut für Gemeindebau und Weltmission. 1996 wurde er zum Referenten für Gemeindeaufbau in der BEFG berufen. Seit 2015 ist er Dozent an der Akademie für christliche Führungskräfte und seit 2014 Dozent an der charismatisch geprägten Bibelschule Bad Gandersheim.

In seinem Buch Geist Gottes – Quelle des Lebens: Grundlagen einer missionalen Pneumatologie aus dem Jahre 2013 stellt Rust eine Pneumatologie (Lehre über den Heiligen Geist) vor, die das „umfassende Wirken des Heiligen Geistes in dieser Welt, in der Gemeinde Jesu Christi und in jedem einzelnen Menschen“ (Klappentext Rückseite) neu beleuchten will. Der evangelische Theologe Professor Dr. Jürgen Moltmann, der eine Buchempfehlung zu dem vorliegenden Buch verfasste, hat bei der Lektüre des Werkes „das Fließen des Geistes in Gefühlen und Gedanken“ erspürt und lobt es als eine Arbeit, die sich auf der „Höhe der internationalen Entdeckung und Diskussion über Person und Wirken des Geistes Gottes“ bewegt und „dem Christentum neue Zukunft erschließen“ kann (ebd.).

Einer eingehenderen Betrachtung der Themen des Buches im Einzelnen sollen zunächst einige allgemeine Bemerkungen vorangestellt werden. Rusts Buch ist gut strukturiert aufgebaut und beginnt in Kapitel 1 mit der Darstellung von Wesen und Personalität des dreieinigen Gottes. In den folgenden sieben Kapiteln werden sieben Aspekte des Geistes Gottes aufgegriffen und erläutert:

Der Geist der Offenbarung

Der Geist des Lebens

Der Geist der Freiheit

Der Geist der Liebe

Der Geist der Versöhnung

Der Geist der Gnade

Der Geist der Hoffnung

Die einzelnen Kapitel enthalten regelmäßig Erfahrungsberichte aus dem praktischen Leben von Rusts Nachfolge, was das Buch auflockert. Theologische Begriffe werden in der Regel erklärt, gelegentlich aber auch unerklärt stehen gelassen. Manchmal hat man den Eindruck, dass eine komplizierte Terminologie eines sonst einfachen Sachverhaltes überflüssig ist. So spricht Rust bspw. von „Christomonismus“ (Christus als Zentrum christlicher Lehre) oder einer „staurologischen Christologie“ (Lehre von Christus, die das Kreuz zum Mittelpunkt hat), um die Verkündigung des Paulus zu charakterisieren, der alleine Christus, und ihn als gekreuzigt, verkündigt (60).

Peter Zimmerling, der das Vorwort verfasste, weist darauf hin, dass das Buch nicht nur für den Theologen, sondern auch für theologische Laien – allerdings für „gebildete“ theologischen Laien (11) – geschrieben wurde, woraus abzuleiten ist, dass das Buch anspruchsvoll geschrieben ist. Dennoch sollten vor allem jene geistlichen Leiter der Gemeinden dieses Buch lesen, die eine Gabe haben, komplexere theologische Zusammenhänge zu verstehen und gegebenenfalls in einer verständlichen Weise zu vermitteln, denn es handelt sich um Gedankengut, das unter Evangelikalen immer größere Verbreitung erfährt.

Rusts Buch geht über das übliche Verständnis pfingstlich-charismatischer Theologie weit hinaus und greift die postmoderne Philosophie der Emerging Church ebenso auf wie die immer populärer werdende Mystik-Welle, um eine Pneumatologie zu präsentieren, die charismatisches, emergentes, mystisches und ökumenisches Denken in sich vereint. Diese neue und umfassende Sichtweise wird aus Sicht des Rezensenten die Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte darstellen. Anders als die Pfingstbewegung, die im Jahre 1906 sozusagen mit Pauken und Trompeten auf der christlichen Bildfläche erschien, kommen die Vertreter der emergenten und mystischen Bewegung eher auf leisen Sohlen daher.

Positiv ist anzumerken, dass Rust die pfingstlich-charismatische Bewegung, der er angehört, nicht idealisiert, sondern ganz offen über die Probleme der Bewegung spricht. Er führt die „Erstarrungen und notvollen Erfahrungen“ sowie den „geistlichen Missbrauch“ in vielen der ca. 850 freien charismatischen Gemeinden des D-Netzes an (16-17). Die Dritte Welle des Heiligen Geistes (C. Peter Wagner) der 1970er Jahre brachte ebenso wenig die ersehnte Erweckung wie die geistliche Kampfführung, die von südamerikanischen Charismatikern (Carlos Annacondia) nach Deutschland importiert wurde – „eine Machtanmaßung ohne Auftrag“, wie Wolfram Kopfermann 1994 formulierte (18).

Der sogenannte Toronto-Segen mit ekstatischen Erfahrungen und euphorischem Lachen waren „jedoch nicht alle eindeutig vom Geist Gottes initiiert“ (18), und es war aus Sicht Rusts „auch viel Manipulatives und Menschliches im Spiel“ (19). Nach Toronto folgte die „Erweckung“ in der Brownsville Assemblies of God in Pensacola, Florida. Rust stellt auch hier die kritische Frage: „Hatte diese Erweckungswelle auch Schaden angerichtet?“ (20). Und erstaunlich deutlich fallen Rusts Worte in Bezug auf die Wort-des-Glaubens-Bewegung aus, jenes Wohlstandsevangelium, welches aus seiner Sicht „einseitig und zugleich irreführend und lehrmäßig wie seelsorgerlich unverantwortlich ist“ (333). Nach 50 Jahren Blütezeit der „geistlichen Aufbrüche“ wirft Rust angesichts der gegenwärtigen geistlichen Situation der pfingstlich-charismatischen Gemeinden Deutschlands sogar die Frage auf, ob wir von einer „postcharismatischen Depression“ reden müssen (21).

Rust stellt sich der Frage, warum die charismatischen Bewegungen so „schnell an Schwung verlieren“ können (27). Er macht „Formeln, Rituale, Gewissheiten“ dafür verantwortlich (ebd.) – was durchaus auch das geistliche Leben nichtcharismatischer Bewegungen zu lähmen vermag. Auch eine „einseitig auf die geistliche Erneuerung des Einzelnen“ ausgerichtete Haltung kann aus Sicht Rusts den „missionarischen Schwung ausbremsen“ (29). „Hierarchien“ und ein „Entmündigungsgebaren“ durch das „Amtsgehabe“ von „Aposteln und Propheten“, mit anderen Worten der Menschenkult um so manche charismatische Stars, tragen laut Rust gleichfalls dazu bei, dass der Geist sein Werk nicht tun kann (231). Weitere Problemanzeigen sieht Rust in Einseitigkeiten in der Seelsorge (317) und dem Verlust wahrer Gemeinschaft im heutigen „Gemeindebetrieb“ (193).

Trotz der teilweise ernüchternden Diagnose des geistlichen Zustands der pfingstlich-charismatischen Bewegung ist Rust dennoch der Überzeugung, dass „es der Geist des Lebens ist, dieses Wasser der Lebendigkeit …, das auch heute schon unter den Türschwellen der Kirchen hervorquillt“ (31). Der Stagnation oder dem allenfalls mageren Wachstum der pfingstlich-charismatischen Bewegung in Deutschland steht das „rasante Wachstum“ der Bewegung in anderen Ländern gegenüber (15).

Der Schatz der Mystik

Rusts Buch will einen Beitrag dazu leisten, dass es hierzulande wieder zu mehr Wachstum kommen kann. Seine Rezepte, die er anführt, bestehen einerseits darin, die bereits angeführten negativen Entwicklungen innerhalb der pfingstlich-charismatischen Bewegung zu korrigieren, andererseits führt Rust seine Leser in die Philosophie der Emerging Church ein und plädiert außerdem dafür, „den Schatz einer vom Geist gewirkten Mystik neu zu entdecken“ (95).

Die Kirchengeschichte betrachtet Rust als „wahre Fundgrube christlich-mystischer Erfahrungen“ (97). Rust zählt eine ganze Reihe katholischer Mystiker auf, von denen man aus seiner Sicht profitieren kann: Pseudo-Dionysios Aeropagita, Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz, Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Teresa von Avila, u. a. „Als einen Weg der Erkenntnisfindung“ dient aus Rusts Sicht dieser Schatz der Mystik (96). Er lobt die „Akzente einzelner Mystiker, welche die Mütterlichkeit Gottes herausstellten, und auch die Ansätze der feministischen Theologie“ (79).

Rust empfiehlt die Sammlung – „mit dem Kopf ins Herz hinabsteigen“ –, die durch sakrale Räume, Körperhaltung und bewusstes Atmen gefördert wird (98). Dem Beispiel christlicher Mystiker folgend, die sich „um das Loslassen und Leerwerden von allen Gedanken bemühen“ (97), benennt er das Ziel der Sammlung, das „Sich-Entleeren“ (99). Im Anschluss an die Phase der Sammlung empfiehlt Rust das „betrachtende, meditierende Gebet“ nach dem Vorbild von Richard Foster (ebd.). Rust befürwortet Fosters Anweisungen, die Fantasie und Vorstellungskraft (Imagination) im meditativen Gebet einzusetzen, obgleich es Foster selbst ist, der darauf hinweist, dass es „guten Grund  für die Sorge gibt, dass der Gebrauch der Fantasie vom Bösen missbraucht werden könnte“ (100).

Auf das meditative Gebet folgt als nächste und höhere Stufe das hörende Gebet, das nicht nur von Gedanken, sondern auch von Bildern und Visionen begleitet sein kann. Ziel der mystischen Sammlung und des meditierenden und hörenden Gebets ist die unio mystica, „der Augenblick der Erfüllung, der Ekstase oder auch der Vereinigung, des Versinkens der Seele im unendlichen Meer der Gottheit“ (101). Rust hat diese Erfahrung bereits mehrfach gemacht: „In der Phase der unio mystica lasse ich mich anschauen und von ihm erkennen“ (ebd.). Er betont indessen, dass „Verstand und Mystik keine Gegensätze sind, sondern sich einander zum Klingen bringen“ (104).

Den Umstand, dass Verstand und Mystik sich nicht widersprechen oder ausschließen sollen, erläutert Rust nicht weiter. Wie aber sollen Vernunft und Mystik in Einklang gebracht werden, wenn mystische Erfahrungen nur durch das „Loslassen und Leerwerden von allen Gedanken“ und dem „Sich-Entleeren“ überhaupt erst ermöglicht werden? Wenn der Verstand im Zuge mystischer Erfahrungen sozusagen ausgeschaltet wird, aber im christlichen Leben dennoch seinen Platz haben soll, dann muss der Gläubige ständig hin- und herschalten zwischen aktivem und passivem, entleertem Verstand.

Auf den Seiten 95 – 104, in welchen Rust seine mystische Theologie darlegt, finden sich gerade einmal vier Bibelstellen (Mt 6,24; 1Kor 2,7-12; 1Petr 5,7; 2Kor 3,18), um seine Thesen zu untermauern. Dem stehen Zitate von Karl Barth, Jürgen Moltmann, Teresa von Avila, Karl Rahner und Richard Foster sowie die Erwähnung von 10 katholischen Mystikern gegenüber. Ein längerer Abschnitt nimmt auf die Vorstellungen Richard Fosters Bezug. Statt dass Rust die Aussagen Fosters und der vielen angeführten Mystiker anhand der Bibel prüft, geht er stillschweigend davon aus, dass es sich bei den kontemplativen und mystischen Methoden katholischer Mystiker um biblisch legitime Praktiken handelt.

Wenn man obendrein die angeführten Bibelstellen im Kontext betrachtet, wird noch deutlicher, dass man diese bei sorgfältiger Auslegung niemals als Beweisstellen für mystische Praktiken heranziehen kann. Es sei hier lediglich ein Beispiel angeführt. Rust zitiert im Zusammenhang mit dem „Sich-Entleeren und Stille-werden“ (99) den Vers aus 1Petrus 5,7: „All eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch.“ Petrus rät den Empfängern seines Briefes, ihre Sorgen auf Jesus zu werfen, im Vertrauen, dass er sich um die Probleme kümmert und sich um uns sorgt. Dies, und nicht mehr, hatte der Apostel im Sinn, als er diese Verse niederschrieb. Petrus hatte gewiss nicht an eine Stilleübung oder an ein Entleeren des Verstandes als Teil einer meditativen Sammlung gedacht, wie Rust glauben machen will.

An anderer Stelle verweist Rust auf den Apostel Petrus (im Buch irrtümlicherweise „Apostel Paulus“), der laut dem Bericht in Apostelgeschichte 10,10 eine „Verzückung“ (griech. ἔκστασις; Ek-stasis, Außer-sich-sein) erlebte. Diese Schriftstelle führte dazu, dass die Stellungnahme der Bundesleitung (BEFG) die Toronto-Bewegung (extremcharismatische „Erweckungsbewegung“ Anfang der 1990er im kanadischen Toronto) weder positiv noch negativ beurteilte. Dass die „Ekstase“ des Petrus aller Wahrscheinlichkeit nach ein einmaliger Fall im geistlichen Leben des Apostels war, ebenfalls wie die Entrückungserfahrung des Apostels Paulus in den dritten Himmel, wurde von Rust ebenso wenig in Erwägung gezogen wie der gesamte Schriftbefund. Vielmehr betrachtet er diesen biblischen Bericht aus Apostelgeschichte 10 als Präzedenzfall und Legitimation für mystisch-ekstatische Erfahrungen.

Nirgends in der Bibel stößt man auf Anweisungen oder Methoden, welche ekstatisch-mystische Erfahrungen herbeiführen können oder sollen. Sowohl bei Petrus als auch bei Paulus handelt es sich um Erfahrungen, denen sie passiv ausgeliefert waren und die sie selbst nicht aktiv gesucht oder herbeimeditiert hatten. Es geschah an ihnen als ein besonderes Zeichen Gottes und war nicht wiederholbar. Diesen Aspekt muss man bedenken, wenn Mystiker im Allgemeinen oder die Charismatiker, die den sogenannten Toronto-Segen anstreben, wiederholt nach mystischen oder übernatürlichen Erfahrungen trachten.

Auch das Alte Testament macht deutlich, dass die Gruppe der Ekstatiker den falschen und die Gruppe der Nicht-Ekstatiker den wahren Propheten zugeordnet wird, wie der Alttestamentler Sigmund Mowinckel nachgewiesen hat. Robert L. Alden hat in seinem Artikel Ecstasy and the Prophets gezeigt, dass die LXX (Septuaginta: griechische Übersetzung des hebräischen Alten Testaments) das griechische Wort ekstasis 27 Mal für 11 verschiedene hebräische Worte verwendet.1 Alden kommt zu dem Schluss: „Es gibt nicht eine einzige einleuchtende Darstellung eines Propheten Jahwes, der in Ekstase gerät.“2 Ekstase ist demnach kein Aushängeschild besonderer Geistlichkeit, sondern im Gegenteil eher ein Etikett für seelisch-fleischliches Gebaren. Und auch dem Neuen Testament ist Ekstase als legitimer Weg praktischer Frömmigkeit fremd und begegnet dem Leser nur in wenigen Ausnahmen zumeist in einem besonderen heilsgeschichtlichen Kontext – Petrus sieht in seiner „Ekstase“, dass Gott nichts für unrein erklärt und folglich auch die Heiden in das neue Gottesvolk integriert.

Wer die meditativen Methoden, wie sie Rust in seinem Buch lehrt, biblisch begründen will, muss Schriftstellen aus der Bibel, vor allem aus dem Neuen Testament, anführen, um seinen Standpunkt zu untermauern. Verse der Schrift zusammenzustellen, ohne ihren wahren inhaltlichen Gehalt zu beachten und ohne dass eine gründliche Untersuchung der Bedeutung eines Verses erfolgt, um diese Schriftstellen irgendwie in das eigene mystische Konzept einzubauen, ist wenig überzeugend. Die Bibel kennt keine mystische Theologie. Es waren die Glaubensstreiter der Reformation, die mit Schwärmern und Mystikern ihrer Zeit gebrochen haben und deren Lehre und Handeln im Licht der Schrift enttarnten.

Der bibeltreue evangelische Theologe Karl Heim schrieb im Jahre 1925: „… mystische Rauschzustände kann man gemeinsam haben unter einer Massensuggestion, aber Wahrheitserkenntnisse und Gewissenserfahrungen sind einsame Erlebnisse. Alles, was ich unter der Suggestion eines Menschen glaube und erlebe, das ist gerade kein Erlebnis mit Gott. Wir können nur durch einen klaren geistigen Akt zu Gott kommen, … nicht durch untergeistige Rauschzustände. Alle klaren, geistigen Akte lassen sich im Wort aussprechen und entstehen durchs Wort. Wir finden also Gott nur durch das Wort und ein geistiges Vernehmen des Worts, nicht durch wortlose und wortfremde Unendlichkeitsmystik … Immer, wenn wir die großen Vertreter und Vertreterinnen der katholischen Frömmigkeit betrachten, die den höchsten Gipfel der Ekstase erklommen, stehen wir vor dem letzten Entweder Oder, um das sich der Kampf der Religionen in der ganzen Religionsgeschichte dreht. Entweder der himmlische Rausch, den diese Persönlichkeiten erreicht haben, ist wirklich eine Berührung mit Gott, oder aber wir können Gott nur in einem einsamen geistigen Akt finden, also in nüchterner Klarheit. Jeder von uns steht vor diesem Entweder Oder und muss sich entweder für die eine oder für die andere Auffassung entscheiden. Davon hängt dann unsere Stellung zur katholischen und protestantischen Frömmigkeit, ja unsere ganze Weltanschauung ab.“3

Rudi Holzhauer wies in den 1980er Jahren treffend auf den immer populärer werdenden Trend zur Mystik hin und erklärte: „Das religiöse Erscheinungsbild der Gegenwart wird zunehmend von einem neuen Hang zur Mystik bestimmt… Die Flucht nach innen, in die eigene Seelenwelt, ist aber nicht gleichzeitig der Weg nach oben, zu Gott, wie man erhofft und irrtümlich annimmt – mögen uns das die Altmeister der Mystik der Religionen auch noch so ‚glaubhaft‘ bezeugen! In der Mystik wird das transzendentale Erlebnis, die Begegnung mit dem angeblich ‚Göttlichen‘, über das Zeugnis der Heiligen Schrift gestellt!“4

Rust, der selbst mystische Praktiken ausübt, folgt dem spirituellen Zeitgeist und lehrt kontemplative Methoden, die weder biblisch noch protestantisch und damit im Grunde auch nicht evangelikal sind. Es ist ohnehin traurig, die zunehmende Begeisterung der Evangelikalen für die Mystik beobachten zu müssen, wobei gleichzeitig das Interesse für Gottes Wort und biblische Lehre immer weiter in den Hintergrund gedrängt wird.

Auch Rusts Versuch, Meditation als christozentrische Übung (99) oder trinitarische Praxis (100) auszuweisen, um sie als ein Handeln zu legitimieren, das mit gutem Gewissen als christlich gelten kann, lenkt von der Grundfrage, dem Entweder Oder, zweier unterschiedlicher Auffassungen ab. Ohne biblische Beweisführung schwimmt Rust auf der mystischen Welle mit, um in eine vermeintliche Gottesgegenwart zu treten. Die Bibel lehrt unmissverständlich, dass es nicht mystische Erfahrungen sind, die den Zugang zum Vater ermöglichen, sondern der Glaube aus Gnade (Rö 5,1-2; Eph 3,12; Hebr 4,16; 10,22).

Die missionale Pneumatologie: Aufbruch zur universellen Missio Dei

Rust hätte sich wohl kaum Moltmanns Empfehlung sicher sein können, wenn sein Buch nicht so deutlich die Züge der Philosophie der Emerging Church aufwiese. Über die Zusammenhänge zwischen Moltmann und emergenter Denkweise wird im Detail im letzten Teil dieser Rezension eingegangen. An dieser Stelle sollen die emergenten Vorstellungen beschrieben und anhand der Schrift bewertet werden.

Schon der Untertitel von Rusts Buch Grundlagen einer missionalen Pneumatologie lässt erahnen, aus welchen Quellen der Verfasser außerdem schöpft. Das Wort missional ist eines jener Schlagworte, welche die Vertreter der Emerging Church ständig im Munde führen. In unseren Tagen ist missionarisches Leben out; in ist, wer missional denkt und lebt. Missional steht ähnlich dem sozialen Evangelium der liberalen Theologie für christliche Mission, die sich über die Verkündigung hinaus oder diese gar verdrängend für die sozialen Belange der Menschen einsetzt.

Doch missional zu sein bedeutet weit mehr, als nur sozialer Aktivismus. Missionaler Dienst hat alle Lebensbereiche dieser Welt – Politik, Bildung, Kunst, Wissenschaft, Ökologie – im Visier und will sie alle verbessern und in einem christlichen Sinne veredeln. Laut Rust ist dies nur dann möglich, wenn der Heilige Geist in umfassender Weise den missionalen Dienst befeuert.

Rust spricht von einer „ganzheitlichen Lehre vom Heiligen Geist bis hin zur kosmischen und eschatologischen Pneumatologie [Eschatologie: Lehre von den letzten Dingen],“ die gemeinschaftsfördernd, sozialpolitisch und ekklesiologisch [die Gemeinde betreffend] ausgerichtet ist (28). Das Missionale bezeichnet für ihn demnach nicht nur ein „ganzheitliches Verständnis von der Sendung in alle Bereiche des Lebens“ (30), sondern beinhaltet obendrein eine kosmische und eschatologische Perspektive.

Rust, der viele Autoren der Emerging Church anführt wie Tobias Faix, Johannes Reimer, Michael Frost, Dan Kimball, Werner Küstenmacher, Friedrich Aschoff oder Alan Hirsch, ist überzeugt, dass nicht die „emergenten, missionalen neuen Gemeindeformen eine neue Belebung oder Reanimation der vom Todeskeim geprägten Kirchen und Gemeinschaften hervorbringen,“ sondern der Geist des Lebens (31). Rust befürwortet die emergenten, missionalen Bestrebungen also nur dann, wenn sie vom Heiligen Geist erfüllt sind. Ob die missionale Theologie überhaupt biblisch begründbar ist, liegt außerhalb seines Blickfelds. Rust bemängelt dann auch, dass die Pneumatologie in der emergenten Literatur nur eine „untergeordnete Darstellung findet“ (30).

Rust vertritt eine missionale Lehre, die nicht nur auf die diesseitige Verbesserung der Lebensumstände abzielt, sondern die sich auf die Vollendung ausrichtet, die sich der kosmischen Dimension Gottes bewusst ist und die letztlich nur dann erfolgreich sein kann, wenn der Heilige Geist diese Reformbewegung belebt. Damit hat Rust im Grunde eine pfingstlich-charismatische (pneumatologische) Erweiterung des missionalen Konzepts geschaffen, die, soweit der Rezensent weiß, derzeit als eine neue Perspektive zu gelten hat, die in dieser Form einmalig ist.

Rust plädiert für den Dialog mit allen Religionen. Dieser Dialog bezieht „auch spirituelle Erfahrungen mit ein und bewegt sich nicht nur auf doktrinärer bzw. wissenschaftlicher Ebene“ (39). Rust folgt der Spur seiner emergenten Vorläufer und postuliert eine inklusivistische Weltsicht. Mehr noch, Rust, der den Inklusivismus [Anerkennung der Heilsbedeutsamkeit anderer Religionen] des Zweiten Vatikanischen Konzils der Katholischen Kirche ausdrücklich bejaht, ist überzeugt, dass „die volle und endgültige Offenbarung in Christus erfolgt ist“ (38). Er folgert, dass „missionale Pneumatologie diese Werte des Wahren und Heiligen in anderen Religionen und Kulturen aufspürt und zugleich auf den Ursprung und die Quelle des Heils in Christus hinweist“ (39, siehe auch 85).

Mit anderen Worten, alle Menschen sind bereits irgendwie von Christus inspiriert, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, und alle Menschen werden künftig Christus letztlich als Quelle all des Guten, Wahren und Schönen in der Welt erkennen. Im letzten Kapitel „Der Geist der Hoffnung“, in welchem Rust über die „Vollendung und Gottes neue Welt“ schreibt, übergeht er die Frage, ob ewige Verdammnis für die Menschen bestimmt ist, die Christus nicht als ihren Erlöser angenommen haben. Vielmehr betont Rust: „Der Geist wirkt darauf hin, dass Christus am Ende … alles Gott übergeben kann, so dass ‚Gott alles in allem sein wird.‘ Die christliche Hoffnung auf die Vollendung hat diese universelle Ebene. Es geht um die kosmische Dimension der Gemeinschaft mit Gott“ (345).

Das Wirken des Geistes beschränkt sich laut Rust „keineswegs nur auf den Ort der Kirche und Mission, sondern es weist darüber hinaus auf die Vollendung allen Lebens in Gott hin. Im Wirken des Geistes sind somit die Schöpfung und die Neuschöpfung, als Beginn der Erlösung und als Vollendung der Schöpfung zu deuten“ (58). „Die Gemeinde Jesu hat kein Monopol auf die Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Es geht dem Geist Gottes um die Wiedergeburt, die Neuschöpfung aller Dinge“ (196; Hervorhebung durch den Rezensenten). Diese Äußerungen lassen den naheliegenden Schluss zu, dass Rust zu Allversöhnung oder Heilsuniversalismus tendiert.

Die Gemeinde ist für Rust durch und durch missional, so dass er von der „Missionalität der Gemeinde“ sprechen kann (236). Die Gemeinde ist bis zur Wiederkunft Christi in die „große Missio Dei (Gottes Mission) hineingenommen“ (235). Das Konzept der Missio Dei setzt das Reich Gottes mit der allmählich sich durchsetzenden Gottesherrschaft in dieser Welt gleich. G. Vicedom warnt: „Das Reich der Welt oder das Reich der Teufel als Gegenüber des Gottesreiches und der Missio Dei ist umso gefährlicher, als es nie mit seinem wahren Gesicht in Erscheinung tritt. Es versucht sich immer unter der Maske des Guten, des dem Menschen Zukommenden, mit oft idealen Zielen zu tarnen. Deshalb kann die Grenze zwischen ihm und dem Gottesreich nur in seltenen Fällen klar und sichtbar gezogen werden. In ihm wirken sich die guten Vorsätze des Menschen zum Bösen und zum Verderben aus.“5

Eng mit der Missio Dei und dem ganzheitlichen missionalen Verständnis ist der sozialdiakonische Dienst. Rust erwähnt die Caritas oder das Diakonische Werk und preist sie als Vorbild an für die Freikirchen; letztere haben aus seiner Sicht in den letzten Jahren „ein umfassenderes Missionsverständnis“ entwickelt (255). Rust plädiert für den Einsatz der Geistesgaben in der Diakonie, eine „pneumatologische Dimension der Diakonie“ (262). Alle Geistesgaben sollen aus seiner Sicht „im Dienst der Missio Dei“ eingesetzt werden (277).

Rust bezeichnet die Person des Heiligen Geistes gleichfalls als „missional“, weil er diesbezüglich die „umfassende Mission des Geistes Gottes … im Einklang mit der Missio Dei“ in diese Welt versteht (351). Der Heilige Geist wirkt nicht nur in der Gemeinde, sondern seine Wirksamkeit zeigt sich „an allen Orten und zu allen Zeiten des Lebens“, in „allen Lebensbereichen und Lebensphasen, in Kirche, Gesellschaft und Politik, in Wirtschaft, Kunst und Kultur“ (352). Die Schrift hingegen lehrt, dass der Heilige Geist in den Herzen der Erlösten innewohnt (Rö 8,11; 8,16; 1Kor 3,16; 2Kor 1,22; Gal 3,14; 1Jo 4,13).

Unter der Aussage, dass der Heilige Geist „auf alles Fleisch ausgegossen“ wurde (Apg 2,17; Joel 3,1) versteht die Bibel nicht, dass alle Menschen den Heiligen Geist empfangen haben, denn „der natürliche Mensch nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist“ (1Kor 2,14) und „der HERR ist fern von den Gottlosen, aber das Gebet der Gerechten erhört er“ (Spr 15,29). Allen Menschen aber, sofern sie sich zu Jesus Christus bekehren und ihn im Glauben annehmen, wird seit dem Pfingstereignis in Apostelgeschichte 2 der Heilige Geist gegeben werden.

Die Kirchentrennungen und Spaltungen unter Christen bezeichnet Rust als „konfessionellen Sündenfall“ (215). Eine missionale Pneumatologie „relativiert die Orthodoxie durch die Würdigung der ‚Gemeinschaft des Geistes‘ auch außerhalb der verfassten Kirchen und im Blick auf die gemeinsame Bestimmung der ‚Gemeinschaft aller Heiligen‘“ (ebd.; Hervorhebung durch den Rezensenten). Der Geist Gottes ist laut Rust auf alles Fleisch ausgegossen, was für ihn eine „ökumenische Einheit“, eine „interkonfessionelle Ökumene“ beinhaltet, die „gemeinschaftliche Geisterfahrungen aufspürt“ (217). Somit tritt Rust für eine Einheit auf der Grundlage von Erfahrungen ein und negiert die Einheit, die in der Wahrheit begründet ist (Jo 17,17-21).

Eine missionale Pneumatologie, die eine allumfassende Ökumene anstrebt und Orthodoxie relativiert, hat selbstverständlich Raum für das Sakramentsverständnis der katholischen Kirche. Rust betont, dass er gar nicht über die „Sinnhaftigkeit des Begriffs Sakrament“ nachdenken will; vielmehr beschäftigt ihn die Frage, wie sich „der Geist Gottes an Zeichen und Handlungen bindet“ (220). Und auch die Abendmahlstraditionen der unterschiedlichen Kirchen „ob katholisch, orthodox, anglikanisch, lutherisch oder reformiert“ kann Rust nebeneinander stehen lassen (227).

Rust verweist auf den Jesuiten Teilhard de Chardin und dessen „kosmologische Gesamtschau“ (330) und lobt in diesem Zuge die Befreiungstheologie und die feministische Theologie als positives „gesellschaftskritisches Engagement“ (ebd.). Missionale Christen, die sich der Missio Dei verpflichtet fühlen, lassen sich nicht „auf einen neuen Himmel und eine neue Erde vertrösten“ (ebd.), sondern gehen mutig „gegen allen zerstörerischen Ungeist, jede Ungerechtigkeit und Unfreiheit“ vor (331).

Die Moltmann-Connection

Wie bereits erwähnt, gibt es Anknüpfungspunkte der emergenten Theologie mit dem häufig von Rust zitierten Theologieprofessor Jürgen Moltmann. Über 50 Mal zitiert Rust den evangelischen Theologen oder verweist auf ihn. Dies zeigt, wie stark Rust von Moltmanns Theologie beeinflusst bzw. vereinnahmt ist. Peter Zimmerling schreibt im Vorwort, dass „Rust seine eigenen Überlegungen vor allem im Gespräch mit Moltmann entwickelte und dabei immer wieder die Perspektive der charismatischen Bewegung zur Geltung bringt“ (10).

Rust folgt der „Notwendigkeit einer ganzheitlichen Sicht der Pneumatologie“, wie Moltmann sie vertritt (37) und führt ein längeres Zitat von Moltmann an, in dem dieser erklärt: „Die Gemeinschaft des Geistes führt die Christenheit notwendig über sich selbst hinaus in die größere Gemeinschaft aller Geschöpfe Gottes. Auch die Schöpfungsgemeinschaft, in der alle Geschöpfe miteinander, füreinander und ineinander existieren, ist Gemeinschaft des Heiligen Geistes… Die Entdeckung der kosmischen Weite des Geistes führt dagegen zum Respekt der Würde aller Geschöpfe, in denen Gott durch seinen Geist anwesend ist“ (ebd.). „Gott ist durch seinen Geist in allen Geschöpfen anwesend“, so Moltmann. Dieses Zitat, das Rust bejahend anführt, ist ein weiterer Hinweis, dass Rust, wie Moltmann, Universalist ist.

Der US-amerikanische Pastor und Autor Bob DeWaay hat in seinem Buch The Emergent Church – Undefining Christianity nachgewiesen, dass Moltmanns Theologie, vor allem sein Buch Theologie der Hoffnung, viele Vertreter der Emerging Church in den USA maßgeblich beeinflusste. DeWaay führt u. a. in den USA so bekannte emergente Vertreter wie Brian McLaren, Tony Jones, Leonard Sweet, Stanley Grenz, Doug Pagitt, John Franke, Dwight J. Friesen, Troy Bronsink und Barry Taylor an, die von Moltmanns Theologie der Hoffnung geprägt wurden oder zumindest große Affinität zu den darin vertretenen Thesen aufweisen.6 Einige der genannten Personen trifft man wieder auf den Webseiten der deutschen Emerging Church an.

DeWaay studierte die englische Fassung von Moltmanns Theologie der Hoffnung (Theology of Hope, 1991) und stößt schon in der Einleitung des Buches auf Moltmanns Bekenntnis, dass er u. a. von dem Neo-Marxisten Ernst Bloch inspiriert war. Nach der Lektüre des Buches Principal of Hope des Atheisten Ernst Bloch kam Moltmann zu der Überzeugung, dass eine christliche Theologie der Hoffnung sinnvoll wäre. Für Moltmann sind der Atheismus, der Menschen von Aberglaube und Götzendienst befreien will, und der christliche Glaube, der die Menschen in die Freiheit des kommenden Gottesreiches führen will, keine Gegensätze; und welche Weltsicht auf lange Sicht sich als stärker erweist, könne man getrost der Zukunft überlassen, so Moltmann.7

Dem Leser dieser Rezension mag Neo-Marxismus und Christentum als unvereinbar erscheinen, doch sowohl Moltmann als auch Bloch sind von dem deutschen Philosophen Wilhelm Friedrich Hegel beeinflusst, der die Vorstellung vertritt, dass „Widersprüche durch geschichtliche Prozesse in einer Synthese zu einer besseren Zukunft führen.“8 Dem kann auch Moltmann zustimmen, da „der Gott der Hoffnung sowohl zukünftig als auch gegenwärtig ist, und weil die Zukunft der Welt auch Gottes Zukunft ist.“9 Hegel lehrte die dialektische Synthese, wonach sich widersprechende Thesen in einer höheren Synthese auflösen.

Neben Hegel, der 34 Mal in Moltmanns Buch erwähnt wird, erscheinen auch Karl Barth (26 Mal), Vertreter der Neoorthodoxie, und der liberale Theologe Rudolph Bultmann (32 Mal) sehr häufig. Kreuz und Auferstehung, Tod und Leben, werden von Moltmann als Gegensätze aufgefasst, die einer höheren Synthese einer neuen Realität in der Geschichte dem Guten und Hoffnungsvollen entgegenstreben. Damit zeichnet Moltmann wie nahezu alle Vertreter der Emerging Church eine Geschichtsauffassung, die von der Überzeugung geprägt ist, dass die Welt sich zum Besseren wandelt und einer hoffnungsvollen Zukunft entgegengeht. Die Schrift allerdings spricht von dem großen Glaubensabfall (2Thes 2,3) und dem kommenden Gottesgericht (1Thes 1,10; 5,9; Kol 3,6; Offb 6,17; 12,12; 19,15).

Moltmann verwirft die Vorstellung eines apokalyptischen Gottesgerichts und der Verdammnis alles Bösen. Aus seiner Sicht wird das Böse durch das Gute überwunden. Ein endzeitliches Gericht ist für Moltmann „ein fatalistischer Dualismus“. DeWaay erklärt: „Er [Moltmann] hält es nicht für nötig, sich mit Schriftstellen auseinanderzusetzen, die seinen Vorstellungen widersprechen, aber es überrascht nicht, wenn solche Aussagen von einem deutschen Theologen des 20. Jahrhunderts kommen. In der deutschen theologischen Wissenschaft waren Theologie und Philosophie häufig so miteinander verknüpft, dass sie untrennbar wurden. Dies ist die Folge der Vorstellung, dass die Bibel nicht mehr als Gottes irrtumslose, verbalinspirierte Selbstoffenbarung zu betrachten ist.“10

Den Vorwurf, dass Moltmann sich nicht unter, sondern über Gottes Wort stellt und die Wahrheit auf der Grundlage der Hegel’schen Dialektik statt auf dem Fundament der Bibel definiert, muss man folglich auch Rust machen, der in vielerlei Hinsicht Moltmanns Gedanken folgt. Die postmoderne emergente Theologie beruht auf der „Vorstellung Hegels, dass Gegensätze sich in einer Synthese einer besseren zukünftigen Realität auflösen. Hegels Vorstellungen sind philosophisch und wurden in der realen Welt noch nicht unter Beweis gestellt. Moltmann griff Hegels Vorstellungen auf und schuf eine christliche Alternative zum Marxismus (der ebenfalls auf der Philosophie Hegels beruht), die er als ‚Theologie der Hoffnung‘ bezeichnete. Die Führer der Emerging Church veröffentlichten ein Buch mit dem Titel An Emergent Manifesto of Hope, das Moltmanns Vorstellungen anführt und widerspiegelt… Die Hoffnung, die von diesen Lehrern vertreten wird, hat ihre Grundlage nicht in den wörtlichen Verheißungen der Bibel, sondern in philosophischen Spekulationen.“11

Wider sola scriptura

Rust lehnt die „Alleinwirksamkeit des verkündigten Wortes“, das Prinzip sola scriptura der Reformatoren, ab und ist überzeugt, dass die Gemeinde durch den Grundsatz sola scriptura „geradezu entmündigt werden soll, das Gehörte anhand der Schrift zu prüfen“ (221). Diese Argumentation ist nur schwerlich nachzuvollziehen, denn es waren ja gerade die Reformatoren, die die Bibel in die jeweiligen Landessprachen übersetzten, weil es ihnen wichtig erschien, dass jeder das Wort Gottes selbst lesen und verstehen konnte. Die Reformatoren führten die Menschen aus der Babylonischen Gefangenschaft der von einer lateinischen Amtssprache beherrschten römischen Kirche.

Abwegig wirkt ferner der Vorschlag Rusts, Unterscheidungsvermögen „in den Exerzitien“ des Jesuiten Ignatius von Loyola „einzuüben“ (109). Statt auf das Wort, das Wort allein (sola scriptura), zu verweisen, führt Rust seine Leser zurück auf katholische Pfade. Ignatius von Loyola war eine der Schlüsselpersonen der Gegenreformation und arbeitete unermüdlich daran, die Früchte der protestantischen Reformation wieder auszutilgen.

Ebenso widersprüchlich ist Rusts Aussage: „Die Lehre des Geistes wird niemals der Lehre Jesu widersprechen oder sie in einer widersprüchlichen Weise ergänzen“ (64). Es ist Rust, der in seinem missionalen Ökumenismus so widersprüchliche Lehren wie die katholische Abendmahlslehre neben der protestantischen oder reformierten Lehre stehen lässt. Rust bezieht auch keine Stellung in der Frage der Sakramentenlehre und hat ferner nichts dagegen einzuwenden, dass ein Bischof seinem Firmling durch Handauflegung „die Herabkunft des Heiligen Geistes und die Vermittlung der Gaben des Geistes“ spenden kann (164), obgleich er selbst an die Geistestaufe als zweite Erfahrung glaubt, die „von der Bekehrung und Wiedergeburt unterschieden werden kann“ (169). Damit folgt Rust dem postmodernen emergenten Denken, das keine absoluten Maßstäbe oder letztgültige Wahrheiten anerkennt.

Gefährlich nahe am Pantheismus ist Rust, wenn er schreibt, dass „nicht nur das menschliche Leben von Gottes Ruach durchhaucht ist, sondern die ganze Schöpfung, der ganze Kosmos trägt in sich den Atem Gottes. Jede Pflanze, jedes Tier, jeder Stein, jedes Sandkorn ist ohne den Geist Gottes nicht denkbar“ (35). Rust fährt fort und erläutert, dass ein vom Geist Gottes geprägter Mensch „das Wirken des Geistes in der Schöpfung und in allem Leben wahrnehmen und auch ehren“ wird (36). Er nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf Albert Schweitzer und das, was er „Ehrfurcht vor dem Leben“ nannte. Die biblische Lehre der Allgegenwart Gottes lehrt im Gegensatz zum Pantheismus – „alles ist Gott und Gott ist alles“ –, dass Gott zwar überall gegenwärtig, aber dennoch kein Teil der Schöpfung ist. Zwischen Schöpfer und Schöpfung wird klar unterschieden.

Rust glaubt, dass der Dialog mit der Wissenschaft durch „die Theologie bereichert wird“ (90) und dass „Physik und Metaphysik“ (91) keine Gegensätze sind. Wie sich ein solcher Dialog bspw. in der Evolutionsfrage gestaltet, lässt Rust offen. Das Nachdenken über eine kosmische Pneumatologie sollte dazu führen, dass „Zeitgeist und Geist Gottes als miteinander korrespondierende Größen wahrzunehmen“ sind, so Rust (107). Die Gemeinde sollte aufhören, von der „bösen Welt“ zu sprechen (ebd. in Fußnote 147 als Zitat von Faix und Weißenborn).

Der Schriftbefund weist jedoch deutlich darauf hin, dass die Welt gottfeindlich gesinnt ist und gegen Gott steht. Aus diesem Grund soll der Christ die Welt nicht lieben (1Jo 2,15), er soll die Welt überwinden (1Jo 5,5) und sich dem Zeitgeist nicht anpassen (Rö 12,2), da sich die ganze Welt im Bösen befindet (1Jo 5,19). Die Welt erkennt die wahren Christen nicht (1Jo 3,1) und hasst die Nachfolger Christi (1Jo 3,13). Andererseits hat Gott die Welt so sehr geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab (Jo 3,16). Die Welt zu lieben ist nicht Weltliebe im Sinne einer Liebe zu weltlichen Dingen (1Jo 2,15-17). Diese beiden Wahrheiten dürfen nicht miteinander vermischt werden.

Fazit

Das gut gegliederte und engagiert geschriebene Buch von Heinrich Christian Rust ist seine ehrliche Analyse der gegenwärtigen pfingstlich-charismatischen Bewegung. Rust scheut sich nicht, Schwächen und Fehlentwicklungen dieser Bewegung zu benennen, statt diese unter den Teppich zu kehren und die Bewegung in ein überzogen positives Licht zu stellen. Hierfür muss man Rust Anerkennung zollen, da eine solche Haltung unter Pfingstlern und Charismatikern nicht gerade häufig anzutreffen ist.

Ferner greift Rust Punkte in seinem Buch auf, denen man zustimmen kann und die sich auch nichtcharismatische bzw. nichtpfingstliche Gemeinden zu Herzen nehmen sollten. So weist er darauf hin, dass der Geist nicht wirken kann „ohne die Verkündigung des Evangeliums von Kreuz und Auferstehung“ (148), dass es „eine neue Welt ohne neue Herzen nicht geben wird“ (187), dass es zu viel „Gruppenbildung“ in den Gemeinden gibt (246) und wahre Gemeinschaft unter Christen im „Gemeindebetrieb“ oft untergeht (193), dass wieder „verbindliche Gemeinschaften“ entstehen müssen (248), dass die vielen großartigen „Thesen von der transformierenden Gemeinde“ oft nur Luftblasen sind, die „doch so wenig Veränderung bringen“ (203), dass manche mit den Begriffen „emergent, missional, transformativ“ die „Gemeinde neu erfinden“ wollen (204), dass Evangelisationen zu „einer Großveranstaltung verkümmern kann“ (252), dass die meisten „veranstaltungsorientierten Evangelisationen“ von „verbalem Überhang“ charakterisiert sind (253) und dass Gott „alle Ehre gehören“ sollte (300).

Inhaltlich mag Rusts Buch „auf der Höhe der internationalen Diskussion“ sein, eine Würdigung, die allerdings nur zum Ausdruck bringt, dass Rust im Strom des theologischen Zeitgeistes schwimmt. Dieser Strom ist emergent, mystisch, inklusivistisch, dialogisch, charismatisch, missional und ökumenisch. Rust verkennt die fatalen Konsequenzen der Lehre der Missio Dei. Der Begriff der Missio Dei, der schon seit Anfang der 1950er Jahre bekannt ist, hat über die Jahrzehnte eine zunehmende inhaltliche Veränderung und Erweiterung erfahren in dem Sinne, dass die Verkündigung des Evangeliums zugunsten sozialer und politischer Aktivitäten immer weiter in den Hintergrund rückte. Seit den 1970er Jahren geht es vorrangig um die irdischen Belange und die Verbesserung der Welt.

Die missionale Pneumatologie Rusts spannt die Seile noch weiter und setzt die Pflöcke noch tiefer als die Vertreter der Emerging Church. Er will eine Verchristlichung aller gesellschaftlichen Bereiche realisieren und rückt darüber hinaus eine kosmische Perspektive ins Blickfeld. Er folgt Moltmanns Theologie der Hoffnung, die eine stetige Transformation dieser Welt und des Kosmos bis zur Vollendung postuliert. Dabei betrachtet Rust jeglichen gesellschaftlichen Wandel schon als Wirken des missionalen Heiligen Geistes.

Noch einmal soll Georg F. Vicedom zu Wort kommen, der zu bedenken gibt: „Jesus schenkt die Gaben seines Reiches nie so, dass er Menschliches ergänzt und überhöht, sondern dass er durch das in der Buße und Rechtfertigung geschenkte neue Leben dem Menschen ein neues Verhältnis zu seiner Umwelt und ein neues Ziel seines Lebens vermittelt. Aus diesem erwächst dann der Dienst, den Gott der Welt durch die Seinen erweisen will und der sich so auswirkt, dass alle Lebensgebiete von Christus durchdrungen und erneuert werden. Losgelöst von diesem neuen Leben den Menschen die Gaben des Reiches zu vermitteln, heißt, sie in die Hände von Menschen zu geben, die noch dem anderen Reich unterworfen sind. Wo das nicht beachtet wird, trägt die Tätigkeit der Kirche und Mission nur immer wieder dazu bei, dass Gottes Reich im Machtwillen des sündigen Menschen untergeht.“12

In Anbetracht der historischen Realität der Kirchengeschichte in Bezug auf das soziale Evangelium wird man bei Rusts Aufruf zu mehr sozialdiakonischem Dienst an die viel zitierte Weisheit erinnert: Die Geschichte lehrt, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt. Statt aus der Geschichte der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) zu lernen, die heute über ca. 450.000 hauptamtliche Mitarbeiter in der Diakonie verfügt, aber von 1952 – 2004 ca. 4,3 Millionen Kirchenaustritte verbuchen musste, plädiert Rust dafür, den Weg des missionalen Transformationsverständnis der Missio Dei einzuschlagen, eine im Grunde erweiterte postmodern-emergente Form des sozialen Evangeliums.

Die EKD hat diesen Weg des sozialen Evangeliums vor 100 Jahren eingeschlagen und innerlich wie äußerlich gelitten,13 obgleich sie heute über eine halbe Million Mitarbeiter in der Diakonie verfügt. Ein Ende des Abwärtstrends ist derzeit nicht in Sicht. Warum sollten die evangelischen Freikirchen, und hier sind auch die nichtcharismatischen Gemeinden angesprochen, dem Vorbild der EKD folgen und den gleichen Fehler wiederholen? Anders herum gefragt, könnte es sein, dass die Evangelikalen bei einer falschen Weichenstellung, die im missionalen Sinne die ganze Kraft auf einen sozialen, politischen, kulturellen und ökologischen Aktionismus richtet, nicht nach Jahrzehnten ernüchtert vor denselben Folgen eines verhängnisvollen Irrwegs stehen?

Ein weiterer Punkt, der kritisch angemerkt werden muss, sind Rusts mystische Neigungen. Erkennt Rust, der selbst regelmäßig kontemplative Methoden praktiziert, die Tragweite seines Handelns und Lehrens? Wohl kaum. Wie großzügig Rust viele theologische Überzeugungen nebeneinander stehen lassen kann, erinnert an Spurgeons Warnung, die Bibel nicht wie einen Klumpen Wachs nach eigenem Belieben so zu formen, wie es einem gerade passt. Spurgeon mahnte: „Unsere Vorväter waren klar und deutlich, indem sie Grenzen absteckten. Sie hatten starke Überzeugungen über fundamentale biblische Wahrheiten, und sie verteidigten diese mit ganzem Eifer, wenn sie glaubten, dass sie schriftgemäß waren. Ihr Gebiet war von Hecken und Gräben umgeben; heute haben ihre Söhne aber die Hecken entfernt und die Gräben aufgefüllt, so dass nun alles eben ist und man die Grenzsteine beliebig verschieben kann.“14 Rust hat Hecken entfernt und Gräben aufgefüllt. Dass Rust dies aus besten Motiven tut, soll ihm zugutegehalten werden. Dass er es auch im Sinne und auf der Grundlage der Schrift tut, muss hingegen ausdrücklich verneint werden.

Noch in den 1980er Jahren zierten sich die deutschen Pfingstler, damals noch in der ACD (Arbeitsgemeinschaft der Christengemeinden in Deutschland) zusammengeschlossen, die sich 1982 in Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) umbenannte, vor allzu engen Kontakten mit der Katholischen Kirche. Anlässlich des Papstbesuches in Deutschland im Jahre 1980 gab es von der ACD ein „Nein zum Papst“15, obgleich schon damals der pfingstliche Mühlheimer Verband (damals noch als Christlicher Gemeinschaftsverband Mühlheim CGM bekannt) einen Delegierten zum Empfang des Papstes nach Mainz abstellte und auch in der damaligen ACD schon „Offenheit im rege gewordenen zwischenkirchlichen Dialog“ zu verzeichnen war.16

Mittlerweile hat sich die Situation grundlegend geändert, und es gibt abgesehen von einer kleinen Minderheit unter Pfingstlern und Charismatikern keine Vorbehalte mehr gegen eine ökumenische Einheit mit allen Kirchen. Im Gegenteil, wie sehr sich das geistige Klima verändert hat, lässt sich an Rusts positiver Bewertung des Zweiten Vatikanischen Konzils ableiten. Und dass Rust ferner den interreligiösen Dialog befürwortet, ist ein weiteres Zeichen dafür, wie sehr sich die innere Verfassung der pfingstlich-charismatischen Bewegung verändert hat. Rust bestärkt mit seinem Buch diesen ökumenisch-interreligiösen Dialog, der in seiner Weite biblisch nicht mehr begründbar ist. Wenn Jesu Anspruch, der alleinige Weg zu Gott zu sein (Jo 14,6), wahr ist, dann muss dem Inklusivismus, wie er heutzutage prächtig gedeiht, eine Absage erteilt werden.

Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger), den Rust in seinem Buch ebenfalls anführt, lässt aus Sicht des evangelischen Theologen F. W. Graf „keinen Zweifel daran, dass interreligiöser Dialog dem [katholischen] Lehramt primär zur Missionierung der Andersgläubigen dienen soll, um ihnen die Fülle der Christus-Wahrheit [aus katholischer Sicht] zu erschließen.“17 Nicht nur die „exklusive Autorität des Papstamtes“ („Primat des Papstes“) garantiert aus Sicht Benedikts die „Einheit des Gottesvolkes,“18 sondern auch die katholischen Sakramente, Riten und Überlieferungen, also alles, wogegen die Reformatoren stritten und mitunter ihr Leben ließen. Alle, die noch nicht Glieder der Katholischen Kirche sind, leiden an einem „Heilsdefizit“ und müssen durch eine „Heimholung“ wieder in die Katholische Kirche einverleibt werden.19 Die römisch-katholische Weltkirche hat das „Wirken des Heiligen Geistes immer an die Institutionalität der [Katholischen] Kirche gebunden“, so Graf.20

Die Bibel bezeichnet Gottes Wort als „Schwert des Geistes“ (Eph 6,17). Das missiologische Schwert Rusts ist stumpf und schneidet nicht mehr in gerader Richtung, sondern in alle Richtungen. Statt dass Rust sein Schwert mit dem Schleifstein der Wahrheiten Gottes stählt, macht er seine Klinge mit ökumenischen Parolen stumpf und verdingt sich als Helfer beim Bau der entstehenden widergöttlichen Weltkirche, die einen „äußeren Schein von Gottesfurcht hat, deren Kraft sie aber verleugnet“ (2Tim 3,5).

Rust, der schrieb: „Die Lehre des Geistes wird niemals der Lehre Jesu widersprechen oder sie in einer widersprüchlichen Weise ergänzen“ (64), gibt zu wenig Antworten auf widersprüchliche Lehren der unterschiedlichen Denominationen und Konfessionen. Die Frage der Existenz der Hölle oder des endzeitlichen Gottesgerichts übergeht Rust einfach und beantwortet sie nicht. Ganz im Sinne eines postmodernen Wahrheitsverständnisses schwebt Rust eine Einheit aller Christen vor, die von einer pluralistischen Haltung gekennzeichnet ist.

Wenn Rust Teilhard de Chardin zitiert, wird seine Affinität zu dessen Philosophie offenkundig. Teilhard de Chardin wurde aufgrund seiner Studien zu einem Verfechter des Evolutionismus. Teilhards Ziel war es, die Kluft zwischen dem Pantheismus und dem Christentum zu überwinden, um „die christliche Seele des Pantheismus oder den pantheistischen Aspekt des Christentums“ zu erhellen.21 Er tritt für die Synthese westlicher und fernöstlicher Spiritualität ein, die er auf eine kosmische Dimension erweitert, was erklärt, warum Teilhards Gedankengut von der Amtskirche misstrauisch beäugt wurde. Der Begriff „Christus“, wie er von den Konzilien des vierten nachchristlichen Jahrhunderts definiert wurde, musste aus seiner Sicht aufgegeben werden, um auf eine höhere dritte Ebene vorzudringen, die „weder menschlich noch göttlich, sondern kosmisch“ ist.

Aus der Sicht Teilhards stellen die Seelen aller Menschen die „Seele der Welt“ dar, die dem höchsten Ziel der Vereinigung mit Christus, dem Omega Punkt, entgegen strebt. Dieser Omega Punkt ist Mittelpunkt der Schöpfung und steuert die geistige Evolution des Universums. Aus seiner Sicht wird eine spirituelle Transformation dazu führen, dass die Welt heil wird. Der Mystizismus war für ihn die wahre Religion, welche die Einheit des Menschen mit dem Universum beinhaltet und zum globalen Frieden führt. Teilhard de Chardins Thesen zur Erbsünde, dem stellvertretenden Sühnetod Christi und der leiblichen Auferstehung werden bis heute kontrovers diskutiert. Manche betrachten Teilhard gar als Vordenker des New Age.

Heinrich Christian Rust beendet sein Buch mit dem Hinweis, dass er seine Ausführungen „lediglich als Gedankenanstöße für den weiteren Dialog“ versteht (353). Dieser Dialog wird sich nur dann als fruchtbar erweisen können, wenn Rust und mit ihm viele andere Evangelikale an diesem Scheideweg, an dem der Evangelikalismus angekommen ist, die richtige, d. h. die biblische, Richtung wieder einschlagen. Rusts Ausführungen über das Missionale, die Missio Dei, die Mystik, den ökumenischen Inklusivismus sowie seine kosmisch-philosophische Theologie stehen nicht auf einem schriftgemäßen Fundament und führen jedenfalls in die Irre.

Am Ende dieser Rezension sollen zwei Theologen zu Wort kommen. Karl Eberlein, promovierter Theologe und Pfarrer in Roth bei Nürnberg, schreibt in seinem Buch Christsein im Pluralismus:

„Es waren meist nicht die schlechtesten Zeiten der Kirche, wenn es Streit über gewichtige Fragen des Glaubens und Lebens gegeben hat. Bereits in den Anfängen der Christenheit ist es zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen, wie man etwa aus den Briefen des Apostels erfahren kann (z. B. Gal 2,11-14). Ohne den Mut zum Streit hätte es die Reformation nicht gegeben. Ohne den Mut zum Streit hätte sich während des Dritten Reiches die Bekennende Kirche nie zu ihrer Barmer Erklärung durchringen können… Ohne den Mut zum Streit wird eine Kirche geistlos… Die Notwendigkeit des Streitens ist in unserer Gegenwart nicht geringer geworden als in früheren Zeiten… Es könnte sein, dass die Kirche der Gegenwart nicht zu viel, sondern zu wenig streitet – jedenfalls über das und für das, worüber und wofür es sich von der Botschaft eines befreienden Gottes her zu streiten lohnt.“22

Und der US-amerikanische Theologe Dr. John C. Whitcomb schreibt über das Verhältnis von Liebe und WAHRHEIT:

„Glaube, Liebe und Hoffnung sind Tugenden, aber die WAHRHEIT ist eine ganz andere Kategorie. WAHRHEIT ist die Grundlage oder der Bezugsrahmen, ohne die keine der Tugenden wirklich existieren kann. Warum kann die Liebe nicht ohne die WAHRHEIT gedeihen? Ohne die WAHRHEIT, die die Liebe definiert, schützt, leitet und führt, kann die Liebe zu einem Desaster werden. Wir sollten es niemals wagen, die WAHRHEIT auf die gleiche Ebene zu stellen wie die Tugenden; sie steht über ihnen. Tugenden würden vertrocknen und absterben, wenn es keine WAHRHEIT gäbe.

Liebe, wie sie von Gott definiert ist, tut für eine Person das, was im Lichte der Ewigkeit am besten für sie ist, ganz gleich was es kosten mag. Wenn es um Evangelisation geht, vergessen einige Christen Gottes Definition von Liebe und verfallen einem teuflischen Sentimentalismus.
Die Liebe ist die Dienerin der WAHRHEIT. Sie ermöglicht, dass die WAHRHEIT besser verdaut werden kann, aber wir sollten es niemals zulassen, dass die WAHRHEIT beiseite gerückt wird. Gottes WAHRHEIT kann niemals verändert werden, aber Gottes WAHRHEIT in den Händen menschlicher Boten ist ein sehr kostbares und zerbrechliches Gut. Die WAHRHEIT wird entweder mit aller Kraft verkündigt und verteidigt, oder sie verflüchtigt sich innerhalb einer Generation.“23

Der Autor der vorliegenden Rezension wünscht sich:

  • mehr Mut zum Streit – statt sentimentaler Ökumene,
  • mehr Achtgeben auf die WAHRHEIT als Bezugsrahmen zur Liebe,
  • mehr Entschlossenheit im Kampf für den ein für alle Mal überlieferten Glauben statt verträumter Einheitsbestrebungen,
  • und schließlich mehr Besonnenheit im Heiligen Geist (1Tim 1,7) statt einer Suche nach mystischen Wellness-Erfahrungen.

Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Römer 15,13

 

Anmerkungen

Diese Rezension bezieht sich auf folgende Ausgabe: Heinrich Christian Rust, Geist Gottes – Quelle des Lebens: Grundlagen einer missionalen Pneumatologie, Neufeld Verlag, Schwarzenfeld, 2013.

1 Robert L. Alden, Ecstasy and the Prophets. In: Bulletin of the Evangelical Society, S.149-156.

2 Ebd., S.155.

3 Karl Heim, Das Wesen des evangelischen Christentums, Verlag Quelle & Meyer, Leipzig, 1925, S.68-69.

4 Rudi Holzhauer, Verführungsprinzipien, Verlag Johannis, Lahr, 1998, S.21.

5 Georg F. Vicedom, Missio Dei. Actio Dei, hrsg. v. K.W. Müller, edition afem: mission classics 5, Nürnberg 2002, S.41. Zitiert in: Volker Gäckle, Die transformatorische Theologie im Licht des Neuen Testaments.

6 Bob DeWaay, The Emergent Church – Undefining Christianity, Bob DeWaay, Saint Louis Park, Minnesota, 2009. Kapitel 1 beschäftigt sich eingehend mit Moltmanns Einfluss auf Vertreter der Emerging Church.

7 Ebd., S.19.

8 Ebd.

9 Ebd.

10 Ebd., S.24.

11 Ebd., S.30.

12 Georg F. Vicedom, Missio Dei. Actio Dei, hrsg. v. K.W. Müller, edition afem:

mission classics 5, Nürnberg 2002, S.49. Zitiert in: Volker Gäckle, Die transformatorische Theologie im Licht des Neuen Testaments.

13 Michael Roth wies in seinem Artikel Überlegungen zum eigenen Unbehagen mit dem Ruf nach Spiritualität auf die geistige innere Aushöhlung der evangelischen Kirche hin. Er zitiert den evangelischen Theologen und Professor für Systematische Theologie Friedrich Wilhelm Graf, der von „Tendenzen der Trivialisierung und Infantilisierung“ innerhalb der Kirche spricht und schreibt: „Der zeitgeistaffine Gegenwartsgott ist immer nur reine Liebe, Güte, Gnade und Herzenswärme, ein trostreicher Heizkissengott für jede kalte Lebenslage… Gott entbehrt  hier den Stachel der Negativität, kann also keine Irritationskraft mehr entfalten… Viel Distanzlosigkeit und Gefühlsduselei lassen sich in protestantischen Kanzelreden inzwischen beobachten. Emotionen, subjektive Befindlichkeiten, das Sich-Wohlfühlen rücken ins Zentrum. Das erste Gebot dieses neuen Kults von Einfühlsamkeit und Herzenswärme lautet: Fühle dich endlich wohl.“ In: Materialdienst der EZW, 2/13, S.49.

14 Charles Spurgeon, The Need of Decision for the Truth – A College Address. In: The Sword and the Trowel, März 1874.

15 Ludwig Eisenlöffel, Freikirchliche Pfingstbewegung in Deutschland – Innenansichten 1945 – 1985, V & R Unipress, Göttingen, 2006, 241.

16 Ebd., 242.

17 Friedrich Wilhelm Graf, Kirchendämmerung – Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, C. H. Beck, München, 2011, S.113.

18 Ebd., S.112.

19 Ebd., S.113.

20 Ebd., S.118.

21 Pierre Teilhard de Chardin, Christianity and Evolution, Harcourt Brace Jovanovich, New York, 1971, S.56.

22 Karl Eberlein, Christsein im Pluralismus – Ein Orientierungsversuch in der religiösen Gegenwart, LIT Verlag, Berlin, 2006, S.319-320.

23 Dr. John C. Whitcomb, Is Love Greater Than Truth? In: Sword & Trowel, 2013/Issue 1, S.12