04. Mai 2021

Quelle: Die Rückseite der Postmoderne – Tiefer Glauben. (wordpress.com)

Wir danken Herrn Dr. Hohage für die freundliche Abdruckerlaubnis.

 

Toscana, etwa 2008, am Sandstrand. Ich plansche mit einem meiner Kinder auf dem Arm im Meer. Wir sind in Ufernähe und haben Spaß mit den Wellen. Ich stehe sicher, auch wenn die Wellen relativ hoch sind und ich mich mitunter dagegen stemmen muss, um stehenzubleiben. Alles kein Problem. Dann aber plötzlich Rufen am Ufer – es kommt ein Brecher auf uns zu, der mehr als doppelt so hoch ist als alle anderen Wellen bisher. Zum Rausgehen ist es zu spät, ich stemme mich mit aller Kraft gegen die Welle, verliere den Boden unter den Füßen, aber ich bin noch aufrecht. Und doch verliere ich plötzlich den Halt. Der Sog der Rückseite dieser Welle war so stark, dass es mich umgerissen hat, als die Welle eigentlich schon durch war. Prustend retten wir uns ans Ufer.

An diese Welle muss ich oft denken in letzter Zeit. Denn etwas Ähnliches passiert gerade im Christentum in unserem Kulturkreis: Die Rückseite der Postmoderne-Welle hat uns ergriffen. Uns – damit meine ich die, deren Glauben biblisch-konservativ geprägt ist, die Teil der landes- und freikirchlichen Strömung sind, welche aus dem Pietismus und der Erweckungsbewegung hervorgegangen ist. Ich sehe viele von uns prustend paddeln, aber da ist anscheinend kein Ufer mehr, wenn sich Fragen stellen wie: Welchen Medien können wir glauben? Wird uns die Wahrheit von den Eliten verschwiegen, um bestimmte Ziele zu erreichen, z.B. finanzielle Interessen oder die Einschränkung von Freiheitsrechten, auch für uns Christen? Welche von den Informationen, die uns von verschiedenen Seiten aufgetischt werden, geben Fakten wieder und welche sind erfunden oder falsch interpretiert? Viele Christen wissen nicht wirklich, was sie da eigentlich gerade ergriffen hat, wenn sie z.B. zu der Überzeugung gekommen sind, dass eine große Verschwörung im Gange ist, in der eine kinderbluttrinkende Elite die Weltmacht an sich reißen will und nur einer in der Lage ist, sie aufzuhalten, nämlich der von Gott gesandte Donald Trump. Oder wenn sie sich sicher sind, dass die Medien uns die Unwahrheit über das Coronavirus erzählen, dass das Drehbuch der Angstmache lange geplant und auch mehrfach durchgestochen worden ist von einer Schar von faschistoiden Politikern, deren Ziel es ist, die Menschen um ihre Freiheitsrechte zu bringen, wogegen sie als Christen beten und Widerstand leisten müssen. Sind da nicht satanische, böse Mächte am Werk? Ist es nicht legitim, sich für diesen guten Zweck, die Netzwerke aufzuhalten, mit den politischen Strömungen zu verbinden, die dasselbe denken, oder die Kritiker anzuhören, die in den Medien förmlich ausgegrenzt und nicht gehört werden? Sind die Fakten im Licht der biblischen Endzeitprophetie nicht ganz anders zu interpretieren als die Öffentlichkeit das tut, die wie von unsichtbaren Dompteuren am Nasenring durch die Manege geführt wird? Und warum reagieren die anderen immer so gereizt, wenn man ihnen einfach die Wahrheit sagt?

Wie die Welle kam

Schauen wir uns die Welle an, die da aus der politischen Welt über uns hereingebrochen ist. Friedrich Nietzsche, der “Philosoph der Postmoderne”, hat sie schon vor hundert Jahren kommen sehen in seiner Geschichte vom “tollen (d.h. verrückten) Menschen”1, der sagt: “Wir haben den Horizont weggewischt!”. Das war lange bevor Jacques Derrida und seine Freunde eine Philosophie zusammenbauten, so klapprig wie der erste PC, den Steve Jobs in der Garage zusammengelötet hatte (die unter den Begriffen “Dekonstruktivismus” und “Poststrukturalismus” bekannt ist). Was war das noch nett, als wir so vor dreißig Jahren aufhörten, uns zu streiten, was „Wahrheit“ ist, und stattdessen akzeptierten, dass es „meine“ und „deine“ Wahrheit gibt, auf die wir uns zurückziehen und lieber pragmatische Lösungen für Probleme suchen konnten. “Anything goes!” Es war ein schönes Spiel – wir hatten schließlich noch genug gemeinsame Wahrheiten, die uns einen sicheren Stand ermöglichten. Wir waren wie die Schwimmer in der beginnenden Ebbe, die noch sicheren Boden unter den Füßen wähnten und gar nicht merkten, wie sie sachte ins Meer hinausgezogen werden, während sich die Welle aufbaute, die subjektiven Wahrheiten immer umfassender und bestimmender wurden und die noch vorhandenen gemeinsamen Wahrheiten dekonstruierten.

Überspült

Die Welle brach dann in voller Breite über die harmlos mit „meiner“ und „deiner“ Wahrheit Planschenden herein. Wenn ich mich umhöre, in welchem Themenzusammenhang die Menschen zuerst wahrgenommen haben, dass sich die Spielregeln des Debattierens ändern, wird häufig der Bereich von Ehe, Familie und Sexualität genannt. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die “Gender-Theorie” (v.a. Judith Butler) und die damit verbundene Identitätspolitik, die im Zuge des “Gender-Mainstreamings” politische Wirksamkeit erlangte. Ich glaube, es war das erste Mal, dass eine Theorie, die die Mehrheit der Wissenschaftler zum damaligen Zeitpunkt als “faktenfrei” betrachtete, es zu allgemeiner politischer und gesellschaftlicher Geltung brachte, obwohl ihre Evidenz ausschließlich in der Dekonstruktion von Bestehendem (nämlich der “Geschlechterbinarität”) besteht und sie nicht wissenschaftlich erwiesen, sondern machtpolitisch “top-down” (d.h. von oben nach unten) durchgesetzt wurde. Den Beweis ersetzte der “Narrativ” (die “große Erzählung”), diskursive Macht (Empörung, “Shitstorms”) ersetzte die Debatte. Und ein neues Bonmot ersetzt das angeblich postmoderne “anything goes”: “Das geht gar nicht!”. Es illustriert die reine Inanspruchnahme von Diskurshoheit jenseits von Fakten. Überspült hatte diese Welle Menschen, die sich selbst als “konservativ” verstehen. Sie fanden sich selbst plötzlich in der Rolle der Unmenschen, und die Werte, die sie vertraten, als delegitimierte Unmöglichkeiten am Rande der Gesellschaft. Sie hatten die Welle nicht erwartet und sie waren nicht vorbereitet. Die Nichtkenntnis der neuen Regeln, die jetzt plötzlich galten, war der entscheidende Vorteil derer, die als Avantgarde gekonnt auf der Welle der Postmoderne surften – darunter auch viele Christinnen und Christen mit bibelkritisch-liberaler Einstellung.

Die Rückseite

Diese Avantgarde hatte jedoch mit einem Umstand nicht gerechnet: Der Mensch ist lernfähig. Die konservativ empfindenden Menschen der Gesellschaft sahen, wie ihnen da geschah. Einige von ihnen analysierten die Spielregeln, erlernten sie dabei (zum Teil auch unbewusst) und irgendwann wendeten sie sie selbst an – exakt dieses war die Ursache für den Aufschwung des Rechtspopulismus nach der Jahrtausendwende. Auch der Rechtspopulismus ist oft faktenfrei. Auch er lebt von Narrativen und übt diskursive Macht aus, um seine Gegner zu delegitimieren, statt zu debattieren. Donald Trumps “alternative facts” sind kein Zufallsprodukt, sondern die Form einer Antwort ehemals Konservativer auf die Welle der Postmoderne. “Ehemals?” – ja, denn diese Konservativen haben im Erlernen der neuen Regeln und Fertigkeiten eine Metamorphose durchlaufen, der ihnen exakt den Boden unter den Füßen wegzog, den sie zu verteidigen beabsichtigten: Ihre Werte. Donald Trump, Jair Bolsonaro, Alice Weidel, Boris Johnson, das sind Schein-Reaktionäre; in Wahrheit sind sie durch und durch postmoderne Gestalten. Der Trumpismus, die Querdenker, die französischen Gelbwesten und was alles phänomenologisch dazu gehört, sie alle bilden die Rückseite der Postmoderne, so wie jedes Ding eine Vorder- und Rückseite hat und doch eben dasselbe Ding ist. Sie vertreten ganz andere Inhalte und verfolgen andere Ziele als ihre politischen Kontrahenten auf der Vorderseite dieser Welle, aber sie vertreten sie in derselben Form, mit denselben Methoden und mit demselben Konzept von “Wahrheit” – und eben dies sind die Strukturen, in denen die Postmoderne existiert.

Im Sog dieser “Rückseite der Postmoderne” sehe ich biblisch-konservative Christinnen und Christen in immer größerer Zahl ihr Gleichgewicht verlieren. Ich kenne einige, die die Mechanismen der Postmoderne erkennen, analysieren, benennen und davor warnen konnten und die die Sogwirkung der Rückseite dennoch in die Welle hineinzog. Tiefes Misstrauen gegenüber den Institutionen und Eliten, gegenüber den Medien und dem Mainstream-Gehabe des Konformismus tragen ihren Teil ebenso dazu bei wie die technischen Plattformen der sogenannten “sozialen Medien”, die zeitgleich entstanden. Es gibt da ein ganzes Bündel von Ursachen, auf die ich im nächsten Kapitel eingehe. Die Frage, für die keine objektive Lösung mehr sichtbar ist, lautet:

Welche der Wahrheiten, die von Politikern, von Medien, im Internet, in Mailverteilern und von den Kanzeln angeboten werden, ist wirklich wahr?

Es scheint außerhalb der eigenen Subjektivität kein Kriterium mehr zu geben, um beurteilen zu können, welche Interpretation die Interpretation der anderen richtig interpretiert, denn jeder interpretiert die Interpretation des anderen so, wie es ihm passt, um einen Debattenvorteil zu erreichen. Der eine sagt “Meinungsfreiheit” oder “selbständiges Denken”, der andere sagt “Verschwörungstheorie”, und jeder will damit sagen: Meine Version ist legitim und deine nicht. Nicht “richtig” – sondern “legitim”. So wird die Frage “Was glaube ich?” ersetzt durch die Frage: “Wem glaube ich?”. Denn die „Fakten“, die wir wahrnehmen, um uns selbst eine Meinung zu bilden, sind immer die Fakten aus dem Munde von diesem oder jenem, den ich für glaubwürdiger halte als jemanden, über den ich mich schon so geärgert habe, dass ich ihn aus tiefstem Herzen ablehne. Da glaube ich doch lieber den Gleichgesinnten meiner Filterblase. Und dem YouTube-Video des XYX, das darin geteilt wird… Das ist der Trend, den die Corona-Krise sichtbar gemacht hat.

(Nicht-)postmodernes Christsein?

Es scheint, als habe die Postmoderne auf diesem Weg biblisch-konservativ glaubende Christen ebenso ergriffen wie vorher die liberalen Strömungen der Christenheit, und zwar in zahlenmäßig progredierender (d.h. rasch fortschreitender) Art und Weise. Ich möchte nicht behaupten, dass dieser Trend alle konservativ Glaubenden ergriffen hätte, aber ich möchte behaupten, dass die, die nicht in postmodernen Schemata denken, von den anderen dennoch nach postmodernen Schemata interpretiert werden (die haben nämlich keine anderen mehr) und darum die oben skizzierte Frage mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kommunikationsmitteln nicht mehr lösen können. Dafür gibt es bereits zahlreiche Beispiele. Das stellt die Vermittlung des Glaubens an die nachfolgenden Generationen vor echte Probleme. Kann es eine nicht postmodern kontaminierte Strömung des christlichen Glaubens als Weg in die Zukunft geben? Ich hätte vor einigen Jahren noch “ja” gesagt. Der Anblick der “Rückseite der Postmoderne” lässt mich inzwischen daran zweifeln, ob ein nicht- oder sogar anti-postmodernes Christentum überhaupt eine gangbare Option für die Zukunft darstellt – außer in sozialen Enklaven, und die können den Missionsauftrag Jesu (Mt 28,16-20) nicht mehr erfüllen.

Diese Einsicht hat die Fragestellung für mich verändert. Ich bin auf eine neue Frage gekommen, die ich mir selbst immer wieder stelle und die ich auch Dich gerne fragen möchte: Welche der angebotenen Wahrheiten hilft dir, Jesus Christus nachzufolgen und IHM immer ähnlicher zu werden (Röm 8,29; 2Kor 3,18)? Sei ehrlich dabei und beobachte, was die Wahrheit, der Du glaubst, mit Dir macht, welche Früchte sie trägt – gute oder faule (Mt 7,15-20). Vielleicht können wir nicht mehr ohne weiteres entscheiden, welche “Wahrheiten”, die Welt uns bietet, wahr sind. Aber wir können wahrnehmen, welche uns in der Nachfolge Jesu behindern und welche uns helfen, in der Würde Seiner Jüngerinnen und Jünger zu leben.

 

Quelle: Die Rückseite der Postmoderne – Tiefer Glauben. (wordpress.com)

 

Fußnoten

1 Über diese kurze Parabel (Aphorismus 125 aus Nietzsches Werk “Fröhliche Wissenschaft”) hat Heinzpeter Hempelmann eine Buchreihe verfasst. Für unseren Zusammenhang besonders bedeutsam ist: H. Hempelmann: Wir haben den Horizont weggewischt. Die Herausforderung: Postmoderner Wahrheitsverlust und christliches Wahrheitszeugnis, Witten 2008.