Von Nathan Busenitz & James Coates (EBTC-Verlag Berlin)

Rezensiert von Wilfried Plock, Hünfeld, 22. März 2022, aktualisiert am 25.04.2022

 

Die Vorgeschichte

Als ich die Vorankündigung dieses Buches las, schwante mir nichts Gutes. Anfang Februar 2022 schrieb ich an die deutschen Herausgeber:

Es geht um das angekündigte Buch „Gott ODER Staat“ von Nathan Busenitz und James Coates. Natürlich kenne ich den Inhalt des Buches noch nicht […]. Dennoch möchte ich euch zwei Dinge zu bedenken geben:

  1. Der Titel „Gott ODER Staat“ suggeriert bereits eine falsche Alternative. Die Schrift sagt nicht Gott ODER Staat, sondern Gott UND Staat.

„So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, UND Gott, was Gottes ist!“ (Mt 22,21)

  1. Ihr wisst ganz genau, dass die USA eine der christlichsten Verfassungen der Welt haben. Was in Amerika möglich ist, ist in vielen Staaten der Erde nicht möglich – auch in Deutschland nicht. Wir können insgesamt dankbar für unser Grundgesetz sein, aber mit der amerikanischen Verfassung kommen wir im Blick auf Religionsfreiheit nicht mit. Das Problem ist nun – so befürchte ich –, dass viele die amerikanischen Verhältnisse 1 zu 1 auf Deutschland übertragen werden. Und das kann nur eine Schieflage ergeben, versteht ihr? 

Ich erhielt dankenswerter Weise auch eine Antwort, die aber leider meine Bedenken nicht wirklich ausräumen konnte. Zu Recht – wie ich nun weiß.

Mit reichlich Vor- und Nachworten versehen beschreibt das Buch das Verhalten zweier Gemeinden auf dem nordamerikanischen Kontinent in den letzten zwei Jahren der Pandemie: der Grace Community Church (John MacArthur) in Kalifornien und der GraceLife Church im kanadischen Bundesstaat Alberta (James Coates). Beide Gemeinden hatten sich nach dem ersten Lockdown in 2020 irgendwann entschlossen, sich entgegen der staatlichen Vorgaben weiterhin in gewohnter Weise zu versammeln. Hinter dieser Vorgehensweise steht natürlich ein bestimmtes Schriftverständnis.

Für den damit verbundenen Mut möchte ich den genannten Brüdern dennoch meine volle Anerkennung aussprechen. MacArthur und Coates sind ihrer Überzeugung gefolgt und das hat sie etwas gekostet. Coates hat es ins Gefängnis von Edmonton gebracht. Diese Einstellung finde ich vorbildlich. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die Brüder zu Recht gelitten haben. Diese Frage wird natürlich unser Herr einmal final beantworten.

Die zugrunde liegende Theologie

Beide Gemeinden kommen von Calvins Gemeinde- und Staatsverständnis her. Nach dieser Sicht gibt es drei Bereiche: die Familie, die Gemeinde und den Staat. Letzterer hat nach dieser Sichtweise nur in Ausnahmefällen (z.B. bei vorliegenden Verbrechen) das Recht, in Familie oder Gemeinde einzugreifen. Dem kann ich weitgehend zustimmen. Natürlich darf der Staat nicht diktieren, wie ich mein Familienleben gestalte oder was in unserer Gemeinde gepredigt wird. Problematisch wird es allerdings beim sogenannten Infektionsschutz. Darum gibt es in Deutschland schon lange eine Impfpflicht für Kinder. Das Infektionsschutzgesetz kann sogar vorrübergehend Grundrechte außer Kraft setzen und damit auch die Form unserer Gottesdienste tangieren.

Und genau an der Stelle steigen Busenitz und Coates aus. Sie werfen ihren jeweiligen Staaten vor, „übergriffig“ geworden zu sein, sie sprechen von „einer Unterdrückung, die Gott verunehrt“ (S. 254) und attestieren ihren Obrigkeiten „tyrannische Tendenzen“ (S. 232-233; so auch Uwe Seidel im Anhang S. 288-289).

James Coates äußert sogar ungeheuerliche Gedanken. Auf S. 254 führt er aus:

Im Grunde versucht die Regierung Gott zu spielen. Aber nur Gott ist souverän über Tod und Krankheit. In dem ganzen operativen Hauruck, Menschen vor einem unkontrollierbaren Virus zu beschützen, hat die Regierung ihren Bürgern gottgegebene Rechte entzogen und ihnen allerhand Leid zugefügt.“

Und weiter auf S. 255:

In dieser Welt wurde ein Virus freigesetzt und Gott ist souverän über dieses Virus. Die Auswirkungen dieses Virus sind nicht die Verantwortung der Regierung.“

Wie bitte? Soll das heißen, die Regierung eines Landes soll nichts unternehmen, wenn ein Krankheitserreger ausbricht? Auch nicht bei Ebola? Was ist denn das für ein ungeheurer Determinismus! War sich James Coates darüber bewusst, was er hier zum Ausdruck gebracht hat? Und der deutsche Herausgeber ebenfalls?

Coates glaubt offensichtlich, dass der Staat auch dann nicht in den Ablauf eines Gottesdienstes eingreifen kann, wenn es aus Zwecken des allgemeinen Gesundheitsschutzes seiner Bürger geschieht. Darum ging er mit seiner Gemeinde in den Untergrund (S. 162-170) und es gibt in Deutschland mindestens eine (1) Gemeinde, die ihm auf diesem Weg gefolgt ist. Hauptsache, die Gemeinde kann ihren Gottesdienst genau in der Form weiterführen, wie sie es bisher getan hat! (Wie eine solche gottesdienstliche Versammlung nach Sicht von Coates aussehen soll, beschreibt er auf den Seiten 222-236. Ich will hier nicht weiter darauf eingehen. Allein dieses Kapitel wäre eine Extra-Rezension wert.) Entsteht ein Hotspot, werden Menschen schwer krank oder sterben – nun, der Herr ist souverän über das Virus. Der Leser möge bitte selbst beurteilen, ob das eine gottwohlgefällige Haltung ist.

Übrigens haut sich Coates hier selbst in die Backen (O-Ton Luther). Auf S. 82-83 beschreibt er, dass sie die Einschränkungen des Lockdowns im März 2020 weitgehend akzeptiert haben (wie andere auch). Das hätte er nach der oben beschriebenen Sicht nicht tun dürfen. Gott ist ja souverän über dieses Virus ganz gleich, wie gefährlich es ist. Und trotzdem ist man den Anweisungen der Obrigkeit gefolgt.

Coates liest dem Staat die Leviten

Pastor Coates geht noch einen Schritt weiter. In seiner Predigt vom 14. Februar 2021 forderte er im Stile der alttestamentlichen Propheten seine kanadische Obrigkeit auf, über ihre tyrannische Vorgehensweise Buße zu tun. Auf S. 244 schreibt er:

„Wessen Aufgabe ist es, die Obrigkeit aufzuklären bzw. sie zur Buße aufzufordern? Das ist die Aufgabe der Gemeinde.“

Wie das praktisch ginge? Nach Sicht des kanadischen Pastors kann man den „freundlichen Weg“ wählen und Briefe an die Politiker schreiben oder man könnte auch den Rechtsweg einschlagen (wie es auch ein bekannter Prediger in Deutschland versucht hat und damit vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert ist, denn die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen). Doch dann schreibt Coates auf S. 245:

„Man kann auch das tun, was wir machen: Wir versammeln uns und bezeugen damit, dass unser Gottesdienst außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Obrigkeit liegt.“

Coates verwendet häufig den Begriff des „zivilen Ungehorsams“ (allein sechs Mal auf S. 243). Diesen Terminus halte ich für sehr problematisch. Ungehorsam ist für uns Christen überhaupt keine Option. Entweder sind wir der Staatsgewalt gehorsam oder – wenn das gewissensmäßig nicht mehr möglich ist – dann gehorchen wir Gott! Wir wollen den Gehorsam betonen – nicht den Ungehorsam.

Fazit

Natürlich gibt es lehrreiche Aussagen in diesem Buch. Was Nathan Busenitz zum Beispiel in Kapitel 11 und 12 ausführt, könnte ich weitgehend unterschreiben. Allerdings glaube ich nicht, dass sich eine Gemeinde schon dann „im Untergrund“ versammeln muss, wenn einmal aus Rücksicht auf vulnerable Gruppen auf lauten Gesang verzichtet werden sollte. Man gewinnt den Eindruck, den Autoren ist es wichtiger, ein starres Gottesdienstverständnis (vgl. S. 222-236) „ohne Rücksicht auf Verluste“ durchzuziehen als eine barmherzige Lösung zu finden, die ebenfalls gottwohlgefällig wäre. Genau das hat nämlich die GraceLife Gemeinde in Edmonton im Juli 2020 getan (S. 95-96). Warum ist sie nicht auf diesem Weg geblieben?

Dieses Buch enthält sehr viele richtige, gute und hilfreiche Aussagen. Dennoch hat es meines Erachtens eine eindeutige Schieflage. Ein Pandemie-Geschehen ist keine Bagatelle. In Deutschland erlaubt das Infektionsschutzgesetz der Regierung in einem solchen Fall die Grundrechte einzuschränken – auch das der freien Religionsausübung oder der Versammlungsfreiheit. Das ist dann eben nicht gleich Christenverfolgung. Da könnte man die Zusammenkünfte ein wenig modifizieren und gut wär’s. Diese Flexibilität haben Tausende von Gemeinden in den vergangenen zwei Jahren bewiesen (vgl. auch https://www.apologia.info/gibt-es-ein-woechtliches-versammlungs-gebot-im-neuen-testament-wilfried-plock).

Diesem Aspekt einer echten Pandemie wird in „Gott oder Staat“ viel zu wenig Rechnung getragen. Immer wieder wird auf einen „knechtischen Buchstabengehorsam“ gepocht (z.B. Busenitz auf den S. 266-267), wo ein wenig Barmherzigkeit auch genügen würde. Der Duktus des Buches geht am Ziel vorbei und wird leider „den radikalen Kräften“ in die Karten spielen (auch wenn das weder die Verfasser noch die Herausgeber beabsichtigen).

Darum wäre diese Publikation m.E. auf dem Buchmarkt nicht unbedingt nötig gewesen – schon gar nicht auf dem deutschsprachigen.