07. März 2021

Übersetzt von Georg Walter, Schömberg

 

Indem die Calvinisten ein Lehrsystem von zwei Arten von Ruf propagieren [der wirksame Ruf und der allgemeine Ruf; auch: wirksame und allgemeine Berufung], müssen sie alle Argumente für nur einen allgemeinen Ruf Gottes entkräften. Nur dies ermöglicht es ihnen, die Lehre der unwiderstehlichen Gnade aufrechtzuerhalten und diese Lehre mit dem wirksamen Ruf gleichzusetzen. Demzufolge ist der Begriff „wirksamer Ruf“ die alternative Bezeichnung für unwiderstehliche Gnade. Dieser Begriff wurde dem 10. Kapitel des Westminster Glaubensbekenntnisses entnommen:

Artikel 10.1: Die Vorherbestimmung

Es gefällt Gott, alle diejenigen, die er zum Leben vorherbestimmt hat, und diese allein, zu der von ihm bestimmten und ihm angenehmen Zeit durch sein Wort und seinen Geist (2Thess 2,13-14; 2Kor 3,3; 3,6) aus dem Stand der Sünde und des Todes, in dem sie von Natur sind, zur Gnade und zum Heil durch Jesus Christus (Röm 8,2; Eph 2,1-5; 2Tim 1,9-10) wirksam zu berufen (Röm 8,30; 11,7; Eph 1,10-11), indem er ihren Verstand erleuchtet, die göttlichen Dinge geistlich und heilsam zu verstehen (Apg 26,18; 1Kor 2,10-12; Eph 1,17-18), indem er ihr steinernes Herz fortnimmt und ihnen ein fleischernes Herz gibt (Hes 36,26), indem er ihren Willen erneuert und diesen durch seine allmächtige Kraft zum Guten bestimmt (Hes 11,19; Phil 2,13), und indem er sie wirksam zu Jesus Christus zieht (Eph 1,19; Joh 6,44-45), jedoch so, dass sie ganz freiwillig kommen, da sie durch seine Gnade willig gemacht worden sind (Hld 1,4; Joh 6,37; Röm 6,16-18).[1]

Obgleich Calvinisten für diese beiden Arten von Ruf unterschiedliche Bezeichnungen haben, beinhalten sie stets das Gleiche. Neben den Bezeichnungen „allgemeiner“ und „wirksamer“ Ruf,[2] trifft man auch auf die Begriffe „externer“ und „interner“,[3] „äußerer“ und „innerer“[4] oder „allgemeiner“ und spezieller“[5] Ruf. Eine Reihe von Calvinisten benutzen alle diese Begriffe gleichzeitig.[6]

Laut Calvinisten gilt der allgemeine Ruf „der ganzen Welt durch die Verkündigung des Evangeliums, indem allen Sündern an allen Orten verkündet wird, dass sie durch Glauben in Christus Vergebung ihrer Sünden empfangen und ewiges Leben haben können.“[7] Die drei Aspekte, die den allgemeinen Ruf charakterisieren, werden von Talbot und Crampton näher beschrieben: (1) Die biblische Lehre von Jesus Christus als fleischgewordener Sohn Gottes, (2) eine ehrliche Einladung, über die Sünde Buße zu tun und Christus als Herrn und Retter anzunehmen, (3) die Verheißung der Sündenvergebung in Christus allein.[8] Aber wie Calvinisten selbst zugeben müssen, handelt es sich bei dieser Einladung im Grunde um einen Hohn, denn der allgemeine Ruf „wird das Heilswerk in der Seele eines Sünders nicht bewirken können.“[9] Gunn muss sogar bekennen, dass der „allgemeine Ruf, wie ein Wetterleuchten, großartig und schön anzusehen ist, jedoch niemals etwas bewirken kann.“[10] Storms räumt ein, dass „die Bibel das Wort äußerer Ruf im Sinne einer Berufung Gottes nicht verwendet“, aber er besteht darauf, dass Calvinisten dennoch berechtigt sind, diesen Begriff zu verwenden, da „Gott eine Einladung ausspricht, die allumfassend ist, obgleich letztlich unwirksam.“[11]

Auf der anderen Seite führt der wirksame Ruf dazu, dass „der Heilige Geist in seiner Gnade den auserwählten Sünder zur Mitwirkung veranlasst, also zu glauben, Buße zu tun und frei und willentlich zu Christus zu kommen.“[12] Tom Ross bezeichnet den wirksamen Ruf als „eine der wichtigsten Wahrheiten, die in der Heiligen Schrift gelehrt werden.“[13] Damit jemand errettet werden kann, muss der „äußere Ruf mit dem inneren Ruf von Gottes Heiligem Geist verbunden sein.“[14] Berkhof stellt den Bezug dieser zwei Arten von Ruf her: „Gott ist der Urheber von beiden [Arten von Ruf/Berufung]; der Heilige Geist wirkt in beiden; und in beiden spielt das Wort Gottes eine Rolle.“[15] Wenngleich diese beiden Arten von Ruf scheinbar die gleichen Merkmale aufweisen, bestehen Calvinisten darauf, dass „das Versäumnis, zwischen dem allgemeinen und dem wirksamen Ruf zu unterscheiden, die Macht und Majestät Gottes beschädigt.“[16] Eine Reihe von Calvinisten bestehen darauf, dass dem wirksamen Ruf nicht widerstanden werden kann,[17] während andere betonen, dass, obgleich man ihm widerstehen könne, dieser Ruf „unwiderstehlich im Sinne von unbezwingbar ist.“[18] Wichtig im Zusammenhang mit dem wirksamen Ruf ist, dass er „letztendlich überführend“ oder „letztendlich unwiderstehlich“ ist.[19] Wenn demzufolge dieser wirksame Ruf letztlich immer zum Heil des Sünders führt, warum ergeht der wirksame Ruf Gottes dann nicht an alle Menschen? Will Gott nicht, dass alle Menschen das Heil empfangen? Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, ergeht Gottes wirksamer Ruf nach calvinistischer Lehre nicht unterschiedslos an alle Menschen, da er will, dass ausschließlich die „Erwählten“ errettet werden. Erginge der wirksame Ruf an einen Menschen, der nicht zu den Erwählten zählt, würde daraus ein wiedergeborener „Verworfener“ [jemand, der von Gott nicht erwählt wurde oder von Gott übergangen wurde] hervorgehen, für den Christus nicht gestorben ist [viele Calvinisten lehren, dass Christus ausschließlich für die Erwählten gestorben ist, nicht jedoch für alle Menschen]. Aber was ist mit einem „Erwählten“, der das Wort Gottes nicht annehmen will und nicht errettet werden will? Keine Angst: „Christus wird es nicht zulassen, dass er ihn verwirft.“[20] Dennoch bekräftigt Rose, dass „Gott niemanden gegen seinen Willen in das Reich Gottes eingehen lässt.“[21]

Um diese Frage noch mehr zu verkomplizieren, gehen einige Calvinisten davon aus, dass der allgemeine Ruf angenommen werden kann. Erstens, Tom Ross formuliert die allgemein akzeptierte Lehrauffassung der Calvinisten: „Der allgemeine Ruf wird des Weiteren vom wirksamen Ruf unterschieden in dem Sinne, dass der Mensch dem allgemeinen Ruf immer widersteht, während er dem wirksamen Ruf zu keiner Zeit widersteht.“[22] Nach allem, was Calvinisten über den allgemeinen und den wirksamen Ruf gesagt haben, war dies zu erwarten. Aber eine Reihe anderer Calvinisten sagen, dass dem allgemeinen Ruf widerstanden werden „kann“ oder „könnte“.[23] Daraus folgt, dass der allgemeine Ruf angenommen werden kann. Wenn der allgemeine Ruf oft, jedoch nicht immer verworfen wird, folgt gemäß den Aussagen von Calvinisten selbst, dass es keinen Unterschied zwischen dem allgemeinen und dem wirksamen Ruf gibt, da die „Erwählten“ den allgemeinen Ruf akzeptieren können. Gerstner selbst verwirft sogar diese Unterscheidung: „Die traditionelle Unterscheidung der Reformierten zwischen dem internen und dem externen Ruf kann eine Quelle der Verwirrung sein. Es gibt keine zwei unterschiedlichen Arten von Ruf. Es handelt sich um ein und denselben Ruf. Der interne geistliche Ruf wendet sich an die Wiedergeborenen. Der externe hörbare Ruf wendet sich an die Wiedergeborenen. Dieser eine Ruf an die Wiedergeborenen wird von den Ohren vieler Nichtwiedergeborener vernommen. Aber was sie hören, ist nicht ein Ruf an sie, sondern an die Wiedergeborenen.“[24]

Obgleich die Bibel verschiedene Arten von Berufungen unterscheidet, beweist dies keineswegs die Zweiteilung des allgemeinen/wirksamen Rufs der calvinistischen Lehre. Pink besteht darauf, dass sich das „Wort ,berufen‘ in den neutestamentlichen Briefen nie auf diejenigen bezieht, die Empfänger einer rein äußerlichen Einladung des Evangeliums sind. Unter dem Begriff wird durchweg ein innerer und ein wirksamer Ruf verstanden.“[25] Das Problem mit dieser Aussage ist ein doppeltes. Erstens macht die Bibel keinen Unterschied zwischen einem allgemeinen und einem wirksamen Ruf zum Heil, und zweitens bezieht sich das Wort berufen/rufen (und die davon abgeleiteten Begriffe heißen, nennen u.a.) nicht unbedingt auf einen Ruf oder eine Berufung zum Heil. Tatsächlich wird der Begriff der Berufung in erster Linie nicht im Zusammenhang mit dem Heil verwendet. Paulus war „berufen, ein Apostel zu sein“ (Röm 1,1). Petrus wurde „Kephas genannt“ (Joh 1,42). Herodes „rief die Weisen zu sich“ (Mt 2,7). Jakobus und Johannes wurden von Jesus Christus „berufen“, als sie ihre Netze flickten (Mt 4,21). Aaron wurde „von Gott berufen“ in sein Priesteramt (Hebr 5,4). Jerusalem „heißt im geistlichen Sinn Sodom und Ägypten“ (Offb 11,8). Christen sind „berufene Heilige“ (1Kor 1,2). Und sie werden einerseits „Söhne des lebendigen Gottes genannt“ (Röm 9,26), andererseits „sollen sie Kinder Gottes heißen“ (1Joh 3,1). Der Ruf Gottes, Gottes Berufung, ist eine Bestimmung (Eph 4,1), eine Berufung zur Heiligung (1Thes 4,7), eine Berufung zum Frieden (1Kor 7,15), eine Berufung zur Freiheit (Gal 5,13). Es kann sich ferner um eine Berufung handeln, die im Zusammenhang mit dem Heil steht (1Kor 1,9; Gal 1,6; 2Thes 2,14; 1Petr 2,9), aber unwiderstehliche Gnade sollte nicht mit dem Ruf zum Heil verwechselt werden.

Obgleich die folgenden Verse im Matthäusevangelium von Calvinisten als Beweistexte angeführt werden, um die bedingungslose Erwählung zu untermauern, weil diese den Begriff rufen/berufen beinhalten, betrachten eine Reihe von Calvinisten sie als Beweistexte für die beiden Arten von Ruf durch die unwiderstehliche Gnade:

So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein. Denn viele sind berufen, aber wenige auserwählt. Matthäus 20,16

 Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt! Matthäus 22,14

    Überraschenderweise versteht Rose darunter den inneren, wirksamen Ruf.[26] Doch andere Calvinisten kommen zu dem Schluss, dass es sich bei den „wirksam Berufenen“ und den „Erwählten“ um verschiedene Gruppen handelt und demzufolge an dieser Stelle vom allgemeinen Ruf gesprochen wird.[27] Best will beide Arten von Ruf in diesen Schriftstellen erkennen: „Der Ruf (die Berufung) der Vielen ist der allgemeine Ruf. Die Erwählung der Wenigen ist der wirksame Ruf.“[28] Um einen Bezug dieser Verse zur unwiderstehlichen Gnade herzustellen, müssen Calvinisten jedes Mal, wenn das Wort rufen/berufen erscheint, den Begriff „zum Heil“ [gerufen/berufen zum Heil] hinzufügen. Beide Schriftstellen sprechen jedoch vom „Königreich der Himmel“ (Mt 20,1; 22,2), nicht aber vom Himmel oder vom Heil. Und bei beiden Schriftstellen handelt es sich um Gleichnisse und nicht um Lehraussagen über den Heilsplan Gottes. Der erste Vers bezieht sich auf die Arbeiter (Mt 20,1); das Heil ist eine Gabe (Röm 6,23; Eph 2,8). In Matthäus 22,14 sind diejenigen, die gerufen werden, „zur Hochzeit geladen“ (Mt 22,9), sie werden nicht unwiderstehlich gezwungen, zur Hochzeit zu kommen. Bei denjenigen, die gerufen waren, handelte es sich um „Gute und Böse“ (Mt 22,10) und nicht ausschließlich um die „Erwählten“. Und letztlich reagierten diejenigen, die ausgewählt wurden, auf den allgemeinen Ruf (Mt 22,9), wie Calvinisten einräumen. Der „wirksame“ Ruf an eine bestimmte Gruppe wurde verworfen (Mt 22,3). Folglich erging an diejenigen, die erwählt waren und diejenigen, die verworfen wurden, der gleiche Ruf! War der Ruf „wirksam“ für die eine Gruppe, musste er es auch für die andere sein. Und obgleich es in unserer Untersuchung der bedingungslosen Erwählung bereits deutlich aufgezeigt wurde, muss erneut darauf hingewiesen werden, dass der Ruf (die Berufung) vor der Erwählung kommt. Damit wird die calvinistische ordo salutis (Heilsordnung) entkräftet, denn die Erwählung geschah vorgeblich vor Grundlegung der Welt.

Eine weitere Schriftstelle, die von Calvinisten als Beweistext für unwiderstehliche Gnade angeführt wird, soll nach Auffassung der Calvinisten auch die bedingungslose Erwählung bestätigen:

Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach dem Vorsatz berufen sind. Denn die er zuvor ersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dem Ebenbild seines Sohnes gleichgestaltet zu werden, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen, die er aber berufen hat, die hat er auch gerechtfertigt, die er aber gerechtfertigt hat, die hat er auch verherrlicht. Römer 8,28-30

Ware bezeichnet diese Schriftstelle als die „klarste“ Aussage über „Gottes wirksame Berufung“.[29] Der Baptist Eddie Garrett bezeichnet Vers 30 als „eine der klassischen Schriftstellen über unwiderstehliche Gnade.“[30] Johns erklärt Vers 30 und schreibt: „Dann zur bestimmten Zeit berief er [Gott] sie und machte sie willig, zu Christus zu kommen.“[31] Um sicherzustellen, dass dieser Ruf sich ausschließlich auf die „Erwählten“ bezieht, fügen eine Reihe von Calvinisten das Wort „alle“ vor jeden Satz in dieser „goldenen Kette“ des Heils ein.[32] Ware kommt zu dem Schluss: „Wenn in Römer 8,30 alle diejenigen, die berufen sind, gerechtfertigt und verherrlicht werden, dann folgt daraus, dass es sich bei der ,Berufung‘ von Kapitel 8 Vers 30 um den wirksamen Ruf handelt, da viele widerstehen, die Gottes allgemeinen Ruf des Evangeliums hören, um an ihn zu glauben, und weder gerechtfertigt noch verherrlicht werden.“[33]

Es gibt vier Probleme damit, dass unter dem Wort „berufen“ in diesem Textabschnitt die unwiderstehliche Gnade zu verstehen ist. Erstens, Römer 8 beinhaltet keine vollständige ordo salutis (Heilsordnung), was aus der Tatsache deutlich hervorgeht, dass die Wiedergeburt (Tit 3,5) und die Heiligung (Jud 1) nicht genannt werden. Zweitens, eine konträre Reihenfolge dieser Begriffe erscheint an anderer Stelle gleich mehrfach. In Matthäus 20,16 und 22,14 erscheint die Berufung vor der Erwählung, aber in Römer 8,29 erscheint sie nach der Vorherbestimmung. In Apostelgeschichte 2,23 erscheint die Vorsehung (Elb. Bibel: Vorkenntnis) nach der Vorherbestimmung, aber in 1Petrus 1,2 und Römer 8,29 ist dies nicht der Fall. In 2Thessalonicher 2,13 und 1Petrus 1,2 folgt die Heiligung der „Erwählung“, aber in Judas 1 geht sie der Berufung voraus. Nach 2Timotheus 1,9 und 2Petrus 1,10 ist die Heilsordnung wie folgt: Errettung, Berufung und daraufhin Erwählung. In Judas 1 jedoch wird man geheiligt, bewahrt und sodann berufen. Aber in 1Korinther 6,11 wird der Gläubige abgewaschen, geheiligt und sodann gerechtfertigt. Drittens, dass die Gläubigen in der Schrift als „Berufene“ bezeichnet werden, ist zweifelsohne wahr:

Mich wundert, dass ihr euch so schnell abwenden lasst von dem, der euch durch die Gnade des Christus berufen hat, zu einem anderen Evangelium … Galater 1,6

… und euch ernstlich bezeugt haben, dass ihr so wandeln sollt, wie es Gottes würdig ist, der euch zu seinem Reich und seiner Herrlichkeit beruft. 1Thessalonicher 2,12

Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk des Eigentums, damit ihr die Tugenden dessen verkündet, der euch aus der Finsternis berufen hat zu seinem wunderbaren Licht. 1Petrus 2,9

Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um eine formale Beschreibung von Gläubigen – denn diese haben auf den Ruf (die Berufung) reagiert. Paulus sagte den Thessalonichern in Bezug auf ihr Heil: „… wozu er euch berufen hat durch unser Evangelium, damit ihr die Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus erlangt“ (2Thess 2,14). Das Evangelium, das Paulus den Thessalonichern verkündigte, war gewiss nicht nur auf Zuhörer beschränkt, die zu den „Erwählten“ zählten. Demzufolge werden nur diejenigen, die auf den Ruf Gottes reagierten, als die „Berufenen“ (Röm 8,28) bezeichnet und als solche, die „berufen“ waren (Röm 8,30), obgleich der Ruf Gottes sowohl an die erging, die ihm nicht folgten und somit von Gott verworfen wurden, als auch an die „Erwählten“, die ihn bereitwillig annahmen. Und letztlich, die ganze Vorstellung über unwiderstehliche Gnade in diesem Textabschnitt (wie in jedem anderen) hat seine Grundlage in der calvinistischen Lehre der bedingungslosen Erwählung. Wie Haldane schreibt: „Der wirksame Ruf ist folglich die richtige und notwendige Konsequenz und Folge der Erwählung.“[34] Aber wie wir in Kapitel 7 dargelegt haben, gibt es so etwas wie Gottes „Erwählte“ und Gottes „Verworfene“, die vor Grundlegung der Welt bedingungslos zum Heil oder zur Verdammnis erwählt sind, nicht. Vor Gott sind alle Menschen gleich (Ps 33,13-15). Folglich, da die Lehre der bedingungslosen Erwählung unhaltbar ist, ist auch die Lehre der unwiderstehlichen Gnade widersinnig.

Eine weitere Schriftstelle, die angeblich die zwei Arten von Ruf (Berufung) im Zusammenhang mit der unwiderstehlichen Gnade in den paulinischen Briefen beweisen soll, ist:

Während nämlich die Juden ein Zeichen fordern und die Griechen Weisheit verlangen, verkündigen wir Christus den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, sowohl Juden als auch Griechen, [verkündigen wir] Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. 1Korinther 1,22-24

Ware besteht darauf, dass Vers 24 „für uns ein starkes und Gott ehrendes Beispiel für Gottes Berufung darstellt, die gleichzeitig wirksam und unwiderstehlich als auch selektiv ist.“[35] Um die calvinistische Lehre in diesen Vers hineinzulesen, geht Clark so weit, dass der den Satz „denen aber, die berufen sind“, umformuliert zu „den Auserwählten selbst“.[36] Der Grund, warum Calvinisten die Berufung in dieser Textstelle zu einer wirksamen, unwiderstehlichen Berufung machen, ist darin begründet, dass zwischen Juden und Griechen im Allgemeinen (1Kor 1,22-23) und Juden und Griechen, die berufen sind (1Kor 1,24), unterschieden wird. Die Antwort dieser drei Gruppen auf das Evangelium wird uns an dieser Stelle gegeben. Die Predigt von „Christus, dem Gekreuzigten,“ ist für die Juden ein „Anstoß“ und für die Griechen „Torheit“, aber für die Berufenen ist sie „Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ Aus diesem Grund muss es sich bei dieser Berufung um eine wirksame Berufung handeln (so die Calvinisten), da „die Berufenen in Christus tatsächlich Gottes Kraft und Weisheit erkennen und glauben. Dies hat zur Folge, dass sie wirklich errettet werden.“[37]

Das Problem mit dieser Schlussfolgerung ist, dass sie sowohl den vorausgehenden als auch den folgenden Kontext außer Acht lässt. Diejenigen „aber, die berufen sind“ (1Kor 1,24) sind diejenigen, „die gerettet werden“ (1Kor 1,18), „die glauben“ (1Kor 1,21 ), die „Brüder“ sind (1Kor 1,26). Diejenigen, die „aber berufen sind“ (1Kor 1,24), werden so bezeichnet, weil sie auf den Ruf Gottes geantwortet hatten. Obgleich Calvinisten dies als den allgemeinen Ruf bezeichnen, müssten Calvinisten einräumen, dass es die Nichtwiedergeborenen waren, die berufen wurden. Selbst in der calvinistischen Lehre der zwei Arten von Ruf werden nur diejenigen, die auf den Ruf Gottes antworten, als diejenigen bezeichnet, „die berufen sind.“ In diesem Kontext jedoch geht es um einen einzigen Ruf: Die Verkündigung des Kreuzes. Einige reagieren positiv auf diesen Ruf, andere verwerfen ihn. Ein und derselbe Ruf wird als „Torheit“ und als „Kraft Gottes“ (1Kor 1,18) betrachtet. Auf diesen Gegensatz stößt man an anderen Stellen der paulinischen Briefe:

Denn wir sind für Gott ein Wohlgeruch des Christus unter denen, die gerettet werden, und unter denen, die verlorengehen; den einen ein Geruch des Todes zum Tode, den anderen aber ein Geruch des Lebens zum Leben. Und wer ist hierzu tüchtig? 2Korinther 2,15-16

Ein weiterer Vers im Kontext von 1Korinther verdeutlicht, dass die Berufung in Vers 24 nicht mit unwiderstehlicher Gnade gleichgesetzt werden kann: „Seht doch eure Berufung an, ihr Brüder! Da sind nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme“ (1Kor 1,26). Es muss daran erinnert werden, dass in der calvinistischen Theologie nur diejenigen mit dem wirksamen Ruf gerufen werden, die vor Grundlegung der Welt zum Heil erwählt wurden. Diese Erwählung ist bedingungslos. Folglich, wenn nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme oder Edle berufen sind, verhält sich dies so, weil nicht viele unter ihnen erwählt wurden. Ist dies jedoch der Fall, dann wäre Erwählung nicht bedingungslos, sondern sie wäre an Bedingungen geknüpft. Auf der Grundlage der eigenen calvinistischen Lehrauffassungen könnte man die Berufung in 1Korinther nicht auf die unwiderstehliche Gnade zurückführen.

Der einzige Zweck des calvinistischen Lehrgebäudes, das auf einem ausgeklügelten System von zwei Arten von Ruf (Berufungen) steht,  zielt darauf ab, zu erklären, dass Gottes Wille immer geschieht und dass Gott niemals wollen kann, was von ihm nicht zuvor festgelegt wurde. Im calvinistischen System kann Gott die Errettung eines Sünders durch den Ruf des Evangeliums nicht wollen, sofern Gott selbst den Willen des Menschen nicht auf unwiderstehliche Weise übermannt. Im Gegensatz hierzu ist dies die Art und Weise, wie Jesus Christus wirkte: „Geht aber hin und lernt, was das heißt: »Ich will Barmherzigkeit und nicht Opfer«. Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder zur Buße“ (Mt 9,13). Der Herr Jesus Christus kam nicht, um die „auserwählten Sünder“ zu rufen, und ferner kam er nicht, um die „Nichterwählten“ zu verhöhnen, er kam, um „Sünder zur Buße zu berufen.“ Alle Sünder erreicht der gleiche Ruf.

Die calvinistische Zweiteilung in einen allgemeinen und einen wirksamen Ruf wird obendrein mit zwei Arten von Gnade gleichgesetzt: eine “allgemeine“ Gnade und eine  „rettende“ oder „wirksame“ Gnade.[38] Die Merkmale zwischen allgemeiner und wirksamer Gnade sind die gleichen wie beim allgemeinen und wirksamen Ruf. Boettner erklärt, dass allgemeine Gnade „nicht in der Lage ist, eine echte Bekehrung zu bewirken.“[39] Aus diesem Grund ist allgemeine Gnade „nicht unwiderstehlich“[40], da es sich um ein „geringeres Maß an Gnade als die wirksame Gnade“ handelt.[41] Auf der anderen Seite kann wirksame Gnade „die Feindschaft des fleischlichen Verstandes und den Widerstand des sündhaften Willens überwinden.“[42] Der Gegensatz zwischen allgemeiner und wirksamer Gnade wird von dem presbyterianischen Theologen William Shedd mit folgenden Worten erklärt:

„Bei der allgemeinen Gnade fordert Gott Glaube an Christus, aber er gibt ihn nicht; bei der wirksamen Gnade fordert Gott sowohl Glaube und gibt diesen auch.“[43]

Bei der allgemeinen Gnade muss der Mensch selbst die Bedingung für das Heil, nämlich Glaube und Buße, erfüllen; bei der wirksamen Gnade überführt und befähigt Gott ihn, dies zu tun.“[44]

Bei der allgemeinen Gnade ist der Ruf, zu glauben und Buße zu tun, stets unwirksam, da der Mensch dem Glauben und der Buße abgeneigt und in Knechtschaft der Sünde ist; bei der wirksamen Gnade ist der Ruf stets wirksam, weil seine Abgeneigtheit und seine Knechtschaft in Bereitwilligkeit und wahre Freiheit verwandelt wurde durch das Wirken des Heiligen Geistes.“[45]

Folglich ist wirksame Gnade, wie der wirksame Ruf, gleichbedeutend mit unwiderstehlicher Gnade, demnach also unwiderstehlich: „Als die rettende Gnade den Glauben in unseren Herzen wirkte und uns das Heil schenkte, hatten wir weder den Willen noch die Kraft noch den Wunsch, dem zu widerstehen.“[46]

Das Wesen der wirksamen Gnade war Anlass vieler Kontroversen unter reformierten Calvinisten. Die allgemeine Gnade Gottes, die er universell allen Menschen zuteilt, soll Dinge beinhalten wie fruchtbare Jahreszeiten, Gesundheit, Wohlstand, allgemeine Intelligenz, Talente, Kultur und allgemeine Moral.[47] Aber da einige Calvinisten über diese Dinge hinaus eine Reihe geistlicher Eigenschaften zuordneten, kam es zur „Non-Elect“-Kontroverse („Nicht-Erwählt“-Kontroverse). Im Jahre 1924 veröffentlichte die Christian Reformed Church ein Dokument, das als die „Drei Punkte“ zur allgemeinen Gnade bekannt wurde. Die Hauptaussagen dieser drei Punkte sind:[48]

Was die wohlwollende Haltung Gottes gegenüber der Menschheit im Allgemeinen und nicht nur gegenüber den Erwählten angeht, erklärt die Synode, dass, neben der rettenden Gnade Gottes, die er allein denen schenkt, die zum ewigen Leben erwählt sind, es nach der Schrift und nach dem Bekenntnis gewiss ist, dass Gott seiner Kreatur im Allgemeinen gewisse Gnadenerweise zuteilt.

Da eine Reihe von Calvinisten diesen drei Aussagen widersprachen, kam es in der Christian Reformed Church zu einer Spaltung, und die Protestant Reformed Church wurde unter Führung von Herman Hoeksema gegründet.[49]

 

  1. Was die wohlwollende Haltung Gottes gegenüber der Menschheit im Allgemeinen und nicht nur gegenüber den Erwählten angeht, erklärt die Synode, dass, neben der rettenden Gnade Gottes, die er allein denen schenkt, die zum ewigen Leben erwählt sind, es nach der Schrift und nach dem Bekenntnis gewiss ist, dass Gott seiner Kreatur im Allgemeinen gewisse Gnadenerweise zuteilt.

 

  1. Was das Zurückhalten der Sünde im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft angeht, erklärt die Synode, dass es nach der Schrift und nach dem Bekenntnis ein solches Zurückhalten gibt.

 

  1. Was das Tun sogenannter ziviler Gerechtigkeit durch den nicht wiedergeborenen Menschen angeht, erklärt die Synode nach der Schrift und nach dem Bekenntnis, dass der nicht wiedergeborene Mensch das zivile Gute vollbringen kann, obgleich er unfähig ist, das Gute zu tun, das ihn errettet (Lehrregeln von Dordrecht, III, IV,3).

Die Kontroverse über allgemeine Gnade ist unter denjenigen, die nicht Calvinisten sind, kein Thema. Wie North bestätigt: „Die Vorstellung von allgemeiner Gnade wird in nichtcalvinistischen Kreisen selten diskutiert.“[50] Shedd begründet, warum dies so ist: „Der Unterschied zwischen allgemeiner und spezieller Gnade ist eng mit der calvinistischen Lehre der Erwählung und der Präterition (Übergehen der einen, die nicht zum Heil erwählt wurden) verknüpft.“[51] Demnach entpuppt sich die Debatte über allgemeine Gnade schnell als überflüssig, sobald sich die calvinistische Erwählungslehre als unhaltbar erweist. Das Problem entstand, weil Calvinisten von Gott sagen, er hasse die „Nichterwählten“, während er ihnen gleichzeitig Gnade erweise. Folglich wurden zwei Arten von Gnade erfunden, um das Dilemma zu erklären. Damit erklärten die Calvinisten alle Schriftstellen, die vom Widerstand des Menschen gegen Gott sprechen, zu Texten über den Widerstand gegen die allgemeine Gnade.

Die verzerrte calvinistische Lehrauffassung über die Gnade Gottes kann einer Prüfung durch die Heilige Schrift nicht standhalten, denn sie beruht auf einer falschen Prämisse: die erfundene Unterscheidung zwischen den „Erwählten“ und den „Nichterwählten“. Gott „sieht die Person nicht an“ (Apg 10,34) und die Bewohner der Erde, denen er „allen das Herz gebildet hat“ (Ps 33,15). „Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Gott ist „gütig gegen die Undankbaren und Bösen“ (Lk 6,35). Und gleichzeitig gilt: „Wer an den Sohn glaubt, der hat ewiges Leben; wer aber dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm“ (Joh 3,36). Um dieses Problem zu lösen, „erschien aber die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Retters“ (Tit 3,4). Ganz gleich wie viele verschiedene Arten von Gnade die Calvinisten erfinden, die „spezielle“ Gnade ist allen Menschen zugänglich: „Denn die Gnade Gottes ist erschienen, die heilbringend ist für alle Menschen“ (Tit 2,11). Um den Menschen zu befähigen, diese Gnade anzunehmen, wird der Heilige Geist „die Welt überführen von Sünde und von Gerechtigkeit und vom Gericht“ (Joh 16,8) – und keineswegs nur die „Erwählten“. Es ist Gottes Wort, nicht ein wirksamer Ruf oder die Ausgießung spezieller Gnade, die den Menschen überführt: „Darum danken wir auch Gott unablässig, dass ihr, als ihr das von uns verkündigte Wort Gottes empfangen habt, es nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort, das auch wirksam ist in euch, die ihr gläubig seid“ (1Thess 2,13).

Mit freundlicher Genehmigung von Laurence M. Vance.

Laurence M. Vance, The Other Side of Calvinism, Vance Publications, Orlando, Fifth Printing, 2014, S. 490-500.

[1] Westminster Bekenntnis, Kapitel 10,1. URL: http://winterthur.erkwb.ch/westminster-bekenntnis/kapitel-10-von-der-wirksamen-berufung/.

[2] Good, God’s Purpose, S. 99; S. 18; Tom Ross, Abandoned Truth, S. 158; Best, Life of Light, S. 42; Ware, S. 346.

[3] Kruithof, S. 64; Rose, S. 38; Storms, Chosen for Life, S. 104; Custance, S. 364; Selph, S. 98.

[4] Gerstner, Free Will, S. 21; Matthison, S. 73; Seaton, S. 18.

[5] Calvin Institutes, S. 974 (III.XXIV.8); Charles Spurgeon, „Particular Election“, in Spurgeon, Election, S. 130.

[6] Stelle and Thomas, S. 18; Talbot and Crampton, S. 43; Gunn, S. 21-22.

[7] Ware, S. 346.

[8]  Talbot and Crampton, S. 43

[9]  Seaton, S. 18.

[10]  Gunn, S. 22.

[11] Storms, Chosen for Life, S. 104

[12] Steele and Thomas, S. 88.

[13] Tom Ross, Abandoned Truth, S. 163.

[14] Seaton, S. 18.

[15] Louis Berkhof, Manual of Christian Doctrine, Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co, 1933, S. 231.

[16] Tom Ross, Abandoned Truth, S. 162.

[17] Ebd, S. 161; Talbot and Cramptom, S. 43-44.

[18] Sproul, Grace Unknown, S. 189.

[19] Ware, S. 347.

[20] Palmer, S. 36.

[21] Rose, S. 37.

[22] Tom Ross, Abandoned Truth, S. 161.

[23] Steele and Thomas, S. 49; Good, God’s Purpose, S. 99.

[24] Gerstner, Wrongly Dividing, S. 120.

[25] Arthur W. Pink, Comfort for Christians, Grand Rapids: Baker Book House, 1976, S. 15.

[26] Rose, S. 39.

[27] Storms, Chosen for Life, S. 103; Engelsma, Hyper-Calvinism, S. 65; Dagg, S. 332.

[28] Best, Life to Light, S. 42.

[29] Ware, S. 361.

[30] Eddie K. Garrett, „The Pulpit Series: Irresistible Grace,“ The Hardshell Baptist, December 1987, S. 1.

[31] Johns, S. 17.

[32] Ware, S. 361; Sproul, Grace Unknown, S. 143.

[33] Ware, S. 362.

[34] Haldane, S. 411.

[35] Ware, S. 356.

[36] Clark, First Corinthians, S. 23.

[37] Ware, S. 359.

[38] Sproul, Grace Unknown, S. 184; Shedd, Calvinism, S. 92; Rose, S. 37,39; Boettner, Predestination, S. 180; Schreiner, Prevenient Grace; s. 371.

[39] Boettner, Predestination, S. 179.

[40] Rose, S. 37.

[41] Shedd, Calvinism, S. 92

[42] Ebd.

[43] Ebd., S. 94.

[44] Ebd.

[45] Ebd., S. 94-95.

[46] Rose, S. 37.

[47] Boettner, Predestination, S. 179.

[48] Zitat aus Kuiper, Reformed, S. 105-106.

[49] Siehe Barry L. Gritters, Grace Uncommon, Bryon Center: The Evangelism Society, n. d., Kuiper, Reformed, S. 105-113; Engelsma, Hyper-Calvinism, S. 109-125; North, S. 6-7.

[50] North, S. 3.

[51] Shedd, Calvinism, S. 92.