Wenn ich diesen Punkt so bezeichne, stelle ich nicht in Abrede, dass der Calvinismus nicht auch gute Seiten hat. Michael Kotsch weist in seiner Calvin-Biografie zurecht darauf hin, dass der Genfer Reformator Gott und nicht den Menschen zum Mittelpunkt all seines Denkens gemacht hat:
Calvin fordert heute lebende Christen durch seine absolute Konzentration auf Gott heraus. In seinem Leben und seiner Lehre versuchte er, alles von Gott aus zu denken und von ihm aus zu begründen. Jede Aussage der Theologie sollte nach Calvin letztlich Gott verherrlichen.
Wir haben gesehen, dass die Synode von Dordrecht ihr damaliges Bibelverständnis in Entgegnung auf die arminianische Lehre in ein 5-Punkte System gegossen hat. Offensichtlich kann man die Heilslehre der Bibel so verstehen – aber man muss ihr nicht folgen. Wir sollten differenzieren. Die Schrift rät uns, das Gute zu behalten und das Böse zu meiden.
Ich möchte gerne zeigen, dass das hermeneutische System des Calvinismus echte Gefahren in sich birgt.
1. Das schlichte Evangelium wird unnötig verkompliziert
Das biblische Evangelium ist einfach, aber nicht simpel. Kinder können es genauso verstehen wie Alte, Ungebildete, Analphabeten etc. Wir sind Sünder; aber Gott liebt alle Menschen und hat zu ihrer Errettung seinen Sohn gesandt. Jesus Christus starb aus Liebe einen grausamen Tod am Kreuz. Jeder der umkehrt und glaubt, wird gerettet.
Als der Sohn Gottes über diese Erde ging, bot er vielen die Erlösung an. Er sagte dem Nikodemus, dass er von neuem geboren werden müsse (Joh 3). Er zeigte der Frau am Jakobsbrunnen, wie ihr Lebensdurst für immer gestillt werden könne (Joh 4). Jesus holte den Oberzöllner Zachäus vom Baum und kehrte in seinem Haus ein (Luk 19). Und sogar der Verbrecher, der neben ihm starb, durfte mit ihm ins Paradies. Alle Genannten konnten das rettende Evangelium mühelos verstehen. Christus sprach weder von einem decretum absolutum noch von individueller Erwählung etc.
Das calvinistische System ist kompliziert. Wenn Kritiker es in Frage stellen, dann hören sie oft als Antwort: „Du hast den Calvinismus noch gar nicht verstanden“.
So erging es beispielsweise auch dem amerikanischen Bibellehrer Dave Hunt. Er war ein sehr intelligenter Mensch und ein herausragender Apologet. Nachdem er 2001 sein Buch „What Love Is This? Calvinism’s Misrepresentation of God“ veröffentlicht hatte, versuchte Phil Johnson, die rechte Hand von John MacArthur, während eines Seminars auf einer der folgenden Hirtenkonferenzen in Los Angeles das Werk Hunts zu rezensieren. Seine Ausführungen dauerten ca. 90 Minuten, und ich habe sie aufmerksam angehört. Das einzige, was Johnson am Ende des Tages vorzubringen hatte, war Folgendes: Dave Hunt sei ein guter Sektenkundler; aber den Calvinismus hätte er nicht wirklich verstanden. Mit anderen Worten riet er ihm: „Gib dich nicht mit Dingen ab, die zu hoch für dich sind. Schuster, bleib bei deinen Leisten!“
Wie kompliziert muss das calvinistische System sein, wenn einer der bekanntesten christlichen Apologeten der Welt ein mehr als fünfhundert seitiges Werk darüber schreibt und dann hören muss: „Du hast die Materie nicht wirklich verstanden“? Seltsam.
2. Die Verantwortung für eine persönliche Entscheidung wird abgeschwächt oder negiert
In der calvinistischen Proklamation wird das Evangelium nicht auf eine Entscheidung des Menschen zugespitzt. Das wäre sonst womöglich schon pragmatisch. Der Calvinist bezeugt nur und vertraut darauf, dass Gott ja die Erwählten kennt und an ihren Herzen die Wiedergeburt wirkt.
Als Petrus an jenem historischen Pfingsttag predigte, da fragten die jüdischen Zuhörer, was sie tun sollten? Antwort: Sie sollten Buße tun, sich taufen lassen und sich aus dem verkehrten Geschlecht erretten lassen (Apg 2,38-40). Sie standen in der persönlichen Entscheidung. Ihre Generation hatte Jesus als den Messias abgelehnt und gekreuzigt. Indem sie sich nun auf den Namen des Herrn Jesus taufen ließen, traten sie aus der verkehrten Generation heraus und wurden der Leibesgemeinde Jesu Christi hinzugetan (2,41).
Als Paulus Jahre später auf dem Areopag in Athen predigte, da schmeichelte er den philosophisch geprägten Hörern nicht. Seine Botschaft lautete:
Nun hat zwar Gott über die Zeiten der Unwissenheit hinweggesehen, jetzt aber gebietet er allen Menschen überall, Buße zu tun, weil er einen Tag festgesetzt hat, an dem er den Erdkreis in Gerechtigkeit richten wird durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat und den er für alle beglaubigte, indem er ihn aus den Toten auferweckt hat (Apg 17,30-31).
Die Schrift enthält viele Imperative wie „Tut Buße!“, „Bekehrt euch!“, „Lasst euch erretten!“, „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ etc.
3. Gott wird die Schuld für das Böse in der Welt in die Schuhe geschoben
Weil das calvinistische System den Zirkel bei der Allmacht Gottes einsticht – Calvinisten gebrauchen aber fast durchgängig den Begriff „Souveränität“, der gar nicht in der Schrift vorkommt –, wird Gott als Quelle aller Dinge gesehen. Nichts geschieht ohne seinen Willen. Gott ist verantwortlich für alles: Kriege, Katastrophen, Krankheiten – und letztlich auch für die bösen Taten der Menschen. Man argumentiert so: Wenn Gott etwas auch nicht direkt verursacht hat, so hat er es dennoch nicht verhindert und deshalb habe er es gewollt.
Der in den USA sehr angesehene Theologe R.C. Sproul schreibt:
Gott verfügt alle Dinge, die geschehen […] Gott wollte den Sündenfall […] Gott schuf Sünde.
Ein anderer Calvinist namens Palmer lehrt:
Gott steht hinter allen Dingen. Er entscheidet und veranlasst alle Dinge, die passieren […] Er hat alles vorherbestimmt ‚nach dem Ratschluss seines Willens‘ (Eph 1,11): die Bewegung eines Fingers, das Schlagen eines Herzens, das Lachen eines Mädchens, den Fehler einer Schreibkraft – sogar Sünde.
Hier wird der sündlose, gute Gott zum Urheber des Bösen gemacht. Es tut mir leid, aber diese Theologie ist für mich persönlich – trotz vielleicht bester Motive der Verfasser – nicht weit von Gotteslästerung entfernt.
So sieht es auch Pinnock. Er erwidert:
Die Logik des konsistenten Calvinismus macht Gott zum Urheber des Bösen und verursacht ernste Zweifel an seiner Gutherzigkeit. Man ist geradezu gezwungen zu glauben, Gott habe auch den Horror von Auschwitz geplant […]
T.A. McMahon kommentiert:
Was bedeutet es, was diese Männer gesagt haben und was eine Vielzahl anderer Calvinisten in Übereinstimmung lehren? Glauben sie wirklich, Gott sei der Urheber jeder bösen Handlung der Menschheit? Wenn ja, ist es die höchste Blasphemie gegen den Charakter Gottes. Es ist mir unklar, wie Menschen, die bekennen, Gott zu kennen und zu lieben, und in der Christenheit hoch geschätzt sind, es auch nur denken, geschweige denn predigen können. Hat sie ihr „intellektuelles Denken“ blind gemacht für die deutliche und überwältigende Zahl von Stellen, die ihrer Theologie widersprechen?
Wer hat meinen Sohn getötet?
Norman Geisler berichtet, wie ein bekannter Konferenzredner einmal öffentlich erzählte, dass er mit dem tragischen Tod seines Sohnes nicht fertig wurde. Von seinem stark-calvinistischen Hintergrund her kam er eines Tages zu der Einsicht: „Gott hat meinen Sohn getötet.“ Erst dann bekam er Frieden über der Sache.
Ein souveräner Gott hatte also seinen Sohn getötet. Das ist schon starker Tobak. Dr. Geisler dachte bei sich selbst, was dieser Mann wohl geäußert hätte, wenn seine Tochter vergewaltigt worden wäre? Hätte er erst dann Frieden gefunden, wenn er zu der Einsicht gelangt wäre: „Gott hat meine Tochter vergewaltigt“? Der Herr bewahre uns vor solch lästerlichen Gedanken!
Auf einer Internetseite, deren URL ich hier bewusst nicht angeben möchte, fand ich einen Artikel, in dem der Autor folgende Gedanken kundtat. Es fällt mir schwer, diese Sätze zu zitieren:
Seit Golgatha wissen wir, dass alles, was auch immer geschehen ist, geschieht und geschehen wird – von wem auch immer verschuldet – letztlich immer von Gott kommt. Weil er auf Golgatha jede Verantwortung für alles übernommen hat. Der Holocaust: von Menschen herbeigeführt, aber von Gott auf Golgatha unterschrieben. Der 11. September 2001: von Menschen verursacht, aber von Gott auf Golgatha unterschrieben. Das krebskranke Kind: von Gott auf Golgatha unterschrieben.
Dieser Autor irrt! Hier wird dem absolut reinen, sündlosen Gott die Verantwortung für alle Gräueltaten der Menschen in die Schuhe geschoben. Das ist absolut falsch!
Der Prophet Jesaja warnte seine Zeitgenossen einmal mit folgenden Worten:
Wehe denen, die das Böse gut nennen und das Gute böse; die Finsternis zu Licht machen und Licht zu Finsternis; die Bitteres zu Süßem machen und Süßes zu Bitterem! (Jes 5,20)
Diese Schriftstelle scheint mir hier angebracht.
Gott ist nicht der Urheber des Bösen
Arnold G. Fruchtenbaum, ein an Christus gläubiger Jude, unterschied einmal in einem Vortrag drei Arten des Willens Gottes:
a. Gottes beschließender Wille (sein Ratschluss) legt das fest, was Gott in seiner Souveränität oder mit Vorherbestimmung erreichen will.
b. Gottes wirkender Wille sorgt dafür, dass alles, was Gott sich vorgenommen hat, auch wirklich geschieht.
c. Gottes zulassender Wille hingegen erlaubt auch manches, was Gott im ureigensten Sinn nicht will. Darum ist Gott nicht (direkt) dafür verantwortlich. Gott lässt Unrecht geschehen, aber er verursacht es nicht.
Fruchtenbaum negiert deswegen nicht Gottes Souveränität. Er schreibt an anderer Stelle:
Was auch immer im Universum geschieht, ist irgendwie mit Gottes Souveränität verbunden. Was auch immer im Universum geschieht, ist auf seinen Willen oder auf seine Zulassung zurückzuführen.
Biblische Belegstellen
Von den vielen Schriftstellen, die diese Sicht des zulassenden Willens Gottes lehren, möchte ich einige wenige herausgreifen:
Jesaja 54,15:
Siehe, wenn man auch angreift, so geschieht es nicht von mir aus. Wer dich angreift, wird deinetwegen fallen.Hos 8,4a:
Sie selbst haben Könige gemacht, doch es ging nicht von mir aus.1. Samuel 8,7:
Der HERR aber sprach zu Samuel: Höre auf die Stimme des Volkes in allem, was sie dir sagen! Denn nicht dich haben sie verworfen, sondern mich haben sie verworfen, dass ich nicht König über sie sein soll.
Wer hier behauptet, Gott habe gewirkt, dass sein Volk ihn verwirft, der unterstellt Gott eine gewisse Schizophrenie. Das sei ferne!
Apostelgeschichte 9,4-5:
Und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die zu ihm sprach: Saul! Saul! Warum verfolgst du mich? Er aber sagte: Wer bist du, Herr? Der Herr aber sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Es wird dir schwer werden, gegen den Stachel auszuschlagen!
Analog dazu müsste man hier sagen, der himmlische Vater habe Saulus dazu gebracht, seinen Sohn Jesus Christus zu verfolgen. Der Gedanke wäre völlig absurd.
Noch einmal: Gott lässt also Unrecht geschehen, aber er verursacht es nicht.
Warum greift Gott nicht ein?
Aber nun könnte man vielleicht einwenden: Ja, aber Gott könnte doch eingreifen. Er könnte doch die Unrechtstaten der Menschen verhindern. Er könnte doch Blitze vom Himmel senden oder so was Ähnliches.
Oh ja, das könnte er. Nur, wann sollte Gott eingreifen? Wenn ein Mensch 10 Cent stiehlt, oder 10 Euro oder 10 Millionen? Wann soll er eingreifen? Beim ersten bösen Gerücht oder erst bei Rufmord oder bei Terror?
Die Bibel zeigt uns, dass es einen Sündenfall gegeben hat. Seitdem hat Satan seine Hände im Spiel. Ohne sein Wirken kann man unsere Welt, so wie sie ist, nicht erklären. Wir dürfen diese Welt nicht mit einem Krimi verwechseln. Ein Krimi endet oft mit der Festnahme des Bösen. Gott hat ein anderes Prinzip. Bei ihm muss alles ausreifen. Gott lässt Gutes und Böses nebeneinander wachsen und ausreifen bis zur Ernte – erst dann wird sortiert.
Lasst beides zusammen wachsen bis zur Ernte, und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Lest zuerst das Unkraut zusammen, und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber sammelt in meine Scheune! (Mt 13,30)
Gott liebt diese Welt. Und Gott hat eine riesige Geduld mit dieser Welt. Sie ist ihm nicht gleichgültig. Gottes Geduld hat ein Ziel. Petrus schreibt:
…sondern er hat Geduld mit euch, da er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen (2Petr 3,9).
Darum halten wir daran fest, dass die Wege Gottes in der Heilsgeschichte, trotz der Abwege der Menschen, planvoll durchgeführt werden. Sie sind wie zwei ineinanderlaufende Kreise: einerseits Gottes Allmacht und andererseits die begrenzte menschliche Freiheit. Die freie Entfaltung des Menschen wird nicht gehemmt und verläuft doch so, dass Gottes Heilsplan erreicht wird.
Jemand hat einmal zwei sehr kluge Sätze formuliert:
Obwohl alles Gute von Gott kommt, wird es dennoch von Satan zum Bösen missbraucht.
Obwohl alles Böse von Satan kommt, wird es dennoch von Gott zum Guten gebraucht.
Fazit
Unser Gott wird bereits von Millionen Nichtchristen in der Welt genügend entehrt; da müssen wir Christen ihm nicht auch noch die Verantwortung für das Böse in die Schuhe schieben. Es wäre nicht fair, und es wäre nicht biblisch. Also, lassen wir das!
Mose bekennt am Ende seines Lebens:
Er ist der Fels; vollkommen ist sein Tun; ja, alle seine Wege sind gerecht. Ein Gott der Treue und ohne Falsch, gerecht und aufrichtig ist er (5Mos 32,4).
4. Eine völlig überzogene Souveränitätslehre
Bryson widmet diesem Lehrpunkt in seinem Werk ein gesamtes Kapitel und gibt ihm die Überschrift: „Der 6. Punkt des Calvinismus“. Er führt aus, dass ohne diese überzogene Lehre von Gottes Souveränität die anderen fünf Punkte nicht funktionieren würden. Diese Lehre ist sozusagen „systemrelevant“. Ohne diese (übertriebene) Souveränitätslehre würde das System des Calvinismus zusammenfallen wie ein Kartenhaus.
Arthur W. Pink
Niemand hat die calvinistische Souveränitätslehre deutlicher und prägender herausgearbeitet als der englische Bibellehrer Arthur W. Pink (1886 – 1952). Zu seinen Lebzeiten war sein Einfluss relativ begrenzt. Aber nachdem der amerikanische Verlag „Baker Book House“ mehr als 20 seiner Bücher herausgebracht und der „Banner of Truth Trust“ (gegründet von Iain Murray) sein Buch „Die Souveränität Gottes“ im Jahr 1961 neu veröffentlicht hatte, wurde Pink in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Kultfigur des Calvinismus. Seine Schriften erreichten insgesamt eine Auflage von mehr als einer halben Million Exemplare.
Pink war ein „Hyper-Calvinist“. Er lehrte, Gott habe vor Grundlegung der Welt die gesamte Geschichte – einschließlich der Sünden Satans und Adams – im Voraus geplant. Wenn auch nicht alle seine Leser Pinks Extrempositionen übernahmen, so war er für viele Vertreter des calvinistischen Systems ein prägender Lehrmeister (u.a. Martyn Lloyd-Jones und John Piper etc.). Hyper-Calvinismus nimmt eine biblische Lehre – nämlich Gottes Göttlichkeit – und macht daraus ein unbiblisches Extrem.
Bei Pink (und vielen anderen Calvinisten) ist Vorherwissen in unzulässiger Weise mit Vorherbestimmung gleichgesetzt
Die Schrift spricht sowohl von Vorherwissen als auch von Vorherbestimmung. Arthur W. Pink schreibt:
Doch ist es nicht offensichtlich, dass, wenn Gott alle Dinge vorherweiß, Er auch alle Dinge vorherbestimmt hat? (Hervorh. im Original)
Der biblische Befund
Es gibt in diesem Zusammenhang zwei wichtige Schriftpassagen:
Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach seinem Vorsatz berufen sind. Denn die er vorher erkannt hat, die hat er auch vorherbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, diese hat er auch berufen; und die er berufen hat, diese hat er auch gerechtfertigt; die er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht (Röm 8,28-30).
Petrus, Apostel Jesu Christi, den Fremdlingen von der Zerstreuung von Pontus, Galatien, Kappadozien, Asien und Bithynien, die auserwählt sind nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, in der Heiligung des Geistes zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut Jesu Christi: Gnade und Friede werde euch immer reichlicher zuteil! (1Petr 1,1-2) – (beide Hervorh. durch W.P.)
Beachten wir bitte, dass in den inspirierten Gedankengängen der beiden Apostel jeweils zuerst das Vorherwissen Gottes genannt wird. Gott, der Allwissende, weiß natürlich, wer sich einmal bekehren wird – aber er bestimmt niemand zum Heil. Vorherwissen ist nicht dasselbe wie Vorherbestimmen.
Die Bedeutung des Begriffes „prognosis“ bzw. „proginosko“
a) Vorherwissen
b) „Sich im Voraus mit jemanden eins machen“ oder „vereinigen“. In diesem Sinn kommt es sieben Mal im Neuen Testament vor.
– als Substantiv: Apg 2,23; 1Petr 1,2
– als Verb: Apg 26,5; Röm 8,29; Röm 11,2; 1Petr 1,20; 2Petr 3,17
„Vorherwissen“ ist nicht gleich „Vorherplanen“ bzw. vorherbestimmen (griech.: proorizo).
Apg 26,5 und 2Petr 3,17 beweisen, dass das „Vorherwissen“ kein „Vorherbestimmen“ einschließt.
So lehrt es auch Roger Liebi:
Das Wort prognosis kennen wir im Deutschen im Zusammenhang mit der Wetterprognose. Die Meteorologen erkennen das Wetter im Voraus. Durch ihre Prognose wird das Wetter aber nicht beeinflusst. So ist es auch bei Gott: Durch seine Prognosis übergeht er nicht den Willen und die Verantwortung des einzelnen Menschen!
Darum sei es noch einmal betont: Vorherbestimmung ist in der Bibel nie eine Vorherbestimmung zum Heil, sondern zu den Segnungen Gottes (Eph 1) oder zur Umgestaltung in das Bild Christi (Röm 8) oder zur Heiligung des Geistes (1Petr 1).
Bevor Augustin 397 n.Chr. seinen Paradigmenwechsel vollzog und anfing, eine vorweltliche „unbedingte“ Erwählung zum Heil zu lehren, glaubten alle Kirchenväter daran, dass Gott nach Vorherwissen erwählt hatte. Da war immerhin ein Mann drunter, der noch den Apostel Johannes gekannt hatten: Polycarp – aber auch weitere wie Irenäus, Justin der Märtyrer etc. Der Vater sah, wer sich bekehren würde und erwählte diese, die er bereits in seinem Sohn sah, zu den Segnungen in Christus.
Zurück zum Thema „Souveränität“.
Ein kleiner Exkurs: „Gott vertrauen“ von Jerry Bridges
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf „Gott vertrauen“ von Jerry Bridges eingehen. Ich habe das Buch völlig unvoreingenommen gelesen. Es enthält wirklich sehr viele vertrauensstärkende Aussagen. Keine Frage.
Doch jetzt kommt mein großes „Aber“. Aus meiner Sicht ist auch Bridges Souveränitätslehre überzogen und mündet fast in einen unbiblischen Determinismus. Der Autor geht davon aus, dass Gott einen detaillierten Plan für unser Leben habe. An einer Stelle spricht er sogar von einer Tagesordnung (S. 59).
Für noch bedenklicher halte ich Bridges Umgang mit der Warum-Frage. Er erwähnt, dass diese Frage in der Schrift vorkommt, beeilt sich dann aber hinzuzufügen: „Die Psalmisten lassen nicht zu, dass ihr ‚Warum‘ sich über längere Zeit hinzieht“ (S. 105). Solche Aussagen sind für Menschen, die gerade in schweres Leid gekommen sind, eine schallende Ohrfeige.
Ich kenne eine Gemeinde, in der dieses Buch die Runde gemacht hat. Dort traut sich fast keiner mehr, um Gottes Eingreifen in einer Notsituation zu bitten. Diese Art von überzogener Souveränitätslehre macht die Gläubigen leider zu stillen Duckmäusern.
Steve Lawsons Vortrag während der Reformationskonferenz 2017 in Wittenberg
Während der Reformationskonferenz im Mai 2017 in Wittenberg sprach Steve Lawson, USA, in seinem Vortrag „Soli Deo Gloria“ über Römer 11,36:
Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Ehre in Ewigkeit! Amen.
Nach meinem Verständnis bezieht sich diese Aussage auf den Kontext von Römer 9 – 11. Dort legte Paulus in großartiger Weise die heilsgeschichtlichen Linien Gottes mit seinem Volk Israel und seiner Gemeinde dar.
Lawson riss den Vers aus diesem heilsgeschichtlichen Zusammenhang und verabsolutierte ihn. Es gäbe in Raum und Zeit nichts, was nicht durch Gott gewirkt sei. Er zitierte u.a. Sproul, der einmal gesagt hat, dass es in diesem Universum keine frei schwirrenden Moleküle gäbe. Das ist richtig, denn der weise Schöpfer hat die Naturgesetze gemacht. Dann ging Lawson aber weiter und übertrug diese Sicht auch auf die Errettung des Menschen. Es folgte ein lupenreiner 5-Punkte-Calvinismus.
Aber an dieser Stelle muss ich diesem lieben Bruder laut und deutlich widersprechen.
Sein Gottesbild scheint mir – an diesem Punkt – dem Gott des Islam näher zu sein als dem Gott der Bibel. Gott ist Liebe – und Liebe lässt immer die Möglichkeit zum Neinsagen offen. Diesen Gedanken können Calvinisten scheinbar nicht denken.
Gott regiere – aber reagiere nicht
Anhänger des calvinistischen Systems und seiner überzogenen Souveränitätslehre verstehen die gesamte Menschheitsgeschichte so, als habe Gott jedes Detail im Voraus geplant und bestimmt. Deswegen brauche und könne Gott natürlich nie etwas bereuen. Er könne auch nicht auf eine Situation reagieren – er regiere ja.
Diese Sicht bezeichnet man als „Determinismus“. Sie ist von der Schrift her klar abzulehnen. In diesem Weltbild wäre Gott statisch und nicht dynamisch. Die Bibel zeigt uns jedoch einen lebendigen, dynamischen und auch reagierenden Gott. Er kann Dinge bereuen und sehr wohl seine Pläne ändern. Hier einige Beispiele:
1. Mose 6,5-6:
Als aber der HERR sah, dass die Bosheit des Menschen sehr groß war auf der Erde und alles Trachten der Gedanken seines Herzens allezeit nur böse, da reute es den HERRN, dass er den Menschen gemacht hatte auf der Erde, und es betrübte ihn in seinem Herzen.1. Samuel 15,10-11a:
Da erging das Wort des HERRN an Samuel folgendermaßen: Es reut mich, dass ich Saul zum König gemacht habe; denn er hat sich von mir abgewandt und meine Worte nicht erfüllt!
Die klassische Belegstelle schlechthin ist natürlich Jesaja 38. Hiskia war todkrank geworden. Da betete er zu Gott und weinte sehr. Daraufhin bekommt der Prophet Jesaja eine Offenbarung des Herrn:
Geh hin und sage zu Hiskia: So spricht der HERR, der Gott deines Vaters David: Ich habe dein Gebet gehört, ich habe deine Tränen gesehen! Siehe, ich will zu deinen Tagen fünfzehn Jahre hinzufügen (Jes 38,4-5).
Eindeutiger geht es nicht mehr!
Der Gott der Bibel ist nicht statisch (wie Zeus oder Allah), sondern dynamisch. Er reagiert flexibel auf die Handlungen des Menschen. Manche Gerichtsankündigungen ließ Gott auf Buße hin fallen (z.B. Ninive – Jona 3,10). Er ringt um uns. Er holt uns von falschen Wegen zurück. Er zieht. Aber er zwingt nicht – weil er Liebe ist.
5. Das Vertrauen in die Liebe und Güte Gottes wird untergraben
Vertreter des calvinischen Systems können es nicht gelten lassen, dass Gott alle Menschen liebt. Nach ihrer Logik müsse das unweigerlich zur Allversöhnung führen.
Mitnichten. Gottes Heil gilt für alle – aber es wird nur für diejenigen wirksam, die es in Umkehr und Glauben annehmen. Gott rettet – aber nicht gegen unseren Willen!
Im calvinistischen System liebt Gott erlösungsmäßig nur die Erwählten. Das führt dann schnurgerade zur „begrenzten Sühne“. Warum hätte Christus auch für solche sterben sollen, die am Ende gar nicht im Himmel sein werden? Geisler drückt es wie folgt aus:
Wenn diese Sichtweise gegriffen hat, dann wird aus der „erstaunlichen Liebe“ (amazing love) eine „teilweise Liebe“ (partial love) und am Ende die Erkenntnis, dass Gott alle Nichterwählten hasst.
6. Die Motivation zur Evangelisation wird geschwächt
Wenn calvinistisch geprägte Evangelisten, Missionare und andere Gläubige die Theologie im Hinterkopf haben, dass für große Mengen von Menschen kein Heil in Christus vorgesehen sei, dann lähmt das nicht selten den missionarischen Eifer.
Der Historiker Underwood, der sich besonders mit der baptistischen Bewegung befasst hat, schreibt:
Solch eine Theologie hatte eine lähmende Wirkung auf die Verkündiger. Die Vorstellung, dass das Heil für Massen von Menschen weder beabsichtigt noch verfügbar sei, tötete die evangelistischen Bemühungen und beraubte die Männer jeglichen Gefühls sowie jeglicher Verantwortung für die Ausbreitung des Reiches Gottes.
Ein Freund von mir erzählte, wie er einmal während seiner Bibelschulzeit mit einem seiner Lehrer im Auto unterwegs war. An einer Kreuzung drehte er die Scheibe runter, gab einem jungen Passanten einen Flyer und rief ihm zu: „Gott liebt dich!“ Daraufhin wurde er von seinem Lehrer mit folgenden Worten gerügt: „Woher weißt du denn, dass Gott den liebt?“
Offensichtlich schwächt die calvinistische Sichtweise die Motivation zur Evangelisation.
Ich kenne eine Gemeinde, in der mehr und mehr die TULIP-Sicht überhandnahm. Evangelisation kam im Jahreskalender nicht mehr vor. Das große, unausgesprochene Programm hieß: Die Heiligen noch heiliger machen. Nun, ich habe nichts dagegen, wenn Christen noch christusgemäßer leben. Aber ich bezweifle, dass dieses Wachstum nur mit Lehre erreicht werden kann. Wenn die Gläubigen missionarisch leben und ihren Herrn bezeugen, wird das ihr Wachstum auf viel gesündere Art und Weise fördern.
7. Die Motivation zum Gebet wird geschwächt – besonders das Gebet für Verlorene
Es hängt ja alles zusammen. Meine Theologie im Hinterkopf prägt mein Leben, auch meine christlichen Aktivitäten. Wenn ich glaube, dass die Erwählten sowieso irgendwann mit unwiderstehlicher Gnade zu Gott gezogen werden, dann brauche ich mir doch keine Schwielen an den Knien holen. Gott macht das schon!
Der bereits zitierte A.W. Pink widmet in seinem Buch „Die Souveränität Gottes“ ein Kapitel dem Thema „Die Souveränität Gottes und Gebet“. Fast auf jeder Seite betont der Autor, dass der Leser ja nicht auf die Idee kommen solle, dass der souveräne Gott auf Grund des Gebets von kleinen Menschenwürmern seine Pläne ändern werde. Als Beleg ein paar Zitate:
[…] solche Aussagen setzen den Willen des Geschöpfes an höchste Stelle, denn, wenn unsere Gebete Gottes Plan formen können, dann ist der Allerhöchste den Würmern der Erde untertan (Hervorh. im Original).
Zuerst möchte ich mit allem Nachdruck sagen, dass Gebet weder Gottes Absicht ändern noch Ihn dazu bewegen kann, Seine Pläne neu zu fassen.
Und schließlich sollte ich noch darauf hinweisen, dass Gottes Wille unwandelbar ist und sich durch unser Weinen und Klagen nicht abändern lässt.
Pink bemerkte offenbar nicht, dass sein Denken völlig in einem deterministischen System gefangen war und dass sein Gott mehr den statischen Göttern der Griechen glich als dem lebendigen dynamischen Gott der Bibel. Für Pink war Gebet am Ende nur noch eine Haltung, in der man seine Abhängigkeit von Gott ausdrücken konnte.
Paulus – und die anderen Beterinnen und Beter der Bibel – rangen dagegen mit Gott. Paulus hatte große Traurigkeit und unablässigen Schmerz in seinem Herzen und war bereit, seine Seligkeit zugunsten der verlorenen Seelen seines Volkes preiszugeben (Röm 9,1-5). Von einer solchen Haltung war der „souveräne“ Pink Lichtjahre entfernt!
Glücklicherweise sahen und sehen das viele der großen Evangelisten und Missionare anders. Moody tätigte den bekannten Ausspruch: „Am Morgen bete ich zwei Stunden – und den Rest des Tages helfe ich Gott dabei, mein Gebet zu erhören.“
Ich liebe den Abschnitt 1. Timotheus 2,1-6. Mit meinen Worten zusammengefasst schreibt Paulus dort: Gott will, dass alle Menschen gerettet werden; darum gab sich der Herr Jesus für alle als Lösegeld und darum sollen wir für alle beten.
Souveränität und Gebet
Ich hörte einmal einen Bruder, der leider ebenfalls von der überzogenen Souveränitätslehre geprägt war, über 1. Mose 18 predigen. Wörtlich führte er aus, Gott sei über Abrahams Bitten nicht überrascht gewesen. Überhaupt sollten wir nicht versuchen, Gott zu irgendetwas „rumzukriegen“. Gott weiß alles; Gott hat alles bestimmt. Also, warum betest du eigentlich noch? Der Prediger wollte alle Hörer mit dem Gedanken ermutigen, dass Gott schon alles weiß, bevor wir ihn bitten. Aber „rumkriegen“ kannst du den souveränen Gott nicht.
Doch! Der Gott der Bibel ist nicht statisch, sondern dynamisch. Darum lässt er sich durch aufrichtige Gebete seiner Kinder zum Ändern seiner Wege bewegen (Jes 38,1-5; Hes 22,30; Jona 3,10).
Ein anderer Bruder, der auch dieselbe Predigt gehört hatte, meinte: „Wenn die Souveränität Gottes dahinführt, dass wir keine Gebetsstunden mehr brauchen, dann stimmt etwas nicht.“
Der Teufel reibt sich die Hände
Ich finde es unendlich traurig, wenn es dem Teufel durch ein schiefes theologisches System gelingt, Christen und ganze Gemeinden von Gebet und Evangelisation abzuhalten.
Eine offensichtliche Auswirkung des (Hyper)Calvinismus ist, dass er jeglichen Wunsch, Verlorene zu evangelisieren, unterdrückt. Viele Christen und Gemeinden, die zum Hyper-Calvinismus stehen, begegnen den Nichtchristen fatalistisch, mit Kälte und mit wenig Zuneigung. Gottes Liebe für die Verlorenen und für sein eigenes Volk tritt auf Grund der beherrschenden Gedanken der Souveränität Gottes in den Hintergrund.
8. Die Gefahr der geistlichen Überheblichkeit
Diese Zeilen schreibe ich nicht gerne. Aber im Umgang mit meinen calvinistisch geprägten Brüdern kam immer wieder ein seltsames Überlegenheitsgefühl rüber, sei es im Gespräch oder auch in der schriftlichen Kommunikation.
Einmal hatte ich einen Briefwechsel mit einem Bruder. Einige Mails gingen hin und her. Wir schrieben beide in freundlichem Ton und nannten uns Brüder. Als ich aber erwähnt hatte, dass ich nicht an die augustinisch-calvinistische Erwählungslehre glaube, lautete die Anrede im nächsten Brief: „Lieber Herr Plock“.
Vielleicht ist das ein Extrembeispiel. Aber auch andere Erfahrungen bestätigten mir dieses Überlegenheitsgefühl. Ein anderer Bruder zählte mir eine Reihe von hochdekorierten Theologen auf, die alle calvinistisch gelehrt hatten. Und dann fügte er hinzu: „Und welche großen Gelehrten unterstützen deine Sicht?“
In dem Zusammenhang ist mir aufgefallen, dass der Calvinismus als theologisches System besonders kluge Menschen anzusprechen scheint. So waren und sind folgende „helle Köpfe“ unter seinen Vertretern: George Whitefield, Charles H. Spurgeon, Abraham Kuyper, B.B. Warfield, J. Gresham Machen, R.C. Sproul, John MacArthur, John Piper und viele andere.
Besonders unglücklich macht mich, wenn Calvinisten ihre Sicht „die Lehre der Gnade“ nennen. Ob sie wollen oder nicht implizieren sie damit, dass alle Nicht-Calvinisten nicht die Lehre der Gnade hätten. Das sind dann Synergisten, Semipelagianer und sonstige Verirrte.
Ich behaupte nicht, dass es unter Arminianern keine geistliche Arroganz gäbe. Aber dennoch bleibt mein Eindruck bestehen, dass die geistliche Überheblichkeit im anderen System häufiger vorkommt. Schade. Gerade dort wird doch so die Demut betont.
Abschließend zu den fünf Punkten des calvinistischen Systems eine andere Interpretation der Tulpe:
T – otal geliebt
U – nvollkommen und schwach
L – imitierte Fähigkeiten
P – ersönlich verantwortlich
E – wig gerettet
Das biblische Evangelium ist herrlich schlicht, aber unergründlich tief.
© Wilfried Plock, Hünfeld