Kann man nicht gleichzeitig an die Erwählung Gottes und an die Verantwortung des Menschen glauben?
Moderate Calvinisten sind bestrebt, die Erwählungsproblematik etwas zu entschärfen, indem sie das so genannte Zwei-Schienen-Modell vertreten. Gemeint ist Folgendes: Die eine Schiene sei die Erwählung Gottes vor Grundlegung der Welt – die andere steht symbolisch für die Verantwortung des Menschen. Diese beiden Stränge würden wie Eisenbahnschienen parallel nebeneinander herlaufen und sich erst in der Ewigkeit treffen.
Dieses Bild klingt einleuchtend und sympathisch. Immerhin haben es so bekannte Männer wie Spurgeon und MacArthur vertreten. Ich halte diese nette, menschliche Hilfskonstruktion aber dennoch für unzureichend, denn sie postuliert einen tatsächlichen Widerspruch. Per Definition können sich zwei parallellaufende Linien niemals berühren – auch nicht in der Ewigkeit! – sonst sind sie per Definition nicht mehr parallel.
C.H. Mackintosh
Mackintosh war einer der ersten Vertreter dieses Modells.
Wenn wir uns der Heiligen Schrift zuwenden, finden wir die WAHRHEIT. Nicht nur eine Seite der Wahrheit, sondern die ganze Wahrheit mit allem, was sie beinhaltet. Wir finden dort, Seite an Seite, die Wahrheit der göttlichen Souveränität und die Wahrheit der menschlichen Verantwortung. Ist es unsere Aufgabe, sie miteinander zu versöhnen? Nein, sie sind schon miteinander versöhnt, da uns beide im Wort Gottes dargelegt werden. Wir brauchen nur zu glauben und zu gehorchen.
Komplementarität – ein Erklärungsversuch
Mit Komplementarität bezeichnet man im Allgemeinen die Zusammengehörigkeit widersprüchlicher, sich aber ergänzender Eigenschaften eines Objektes oder Sachverhaltes. Komplementäre Eigenschaften gehören zusammen, sofern sie dasselbe Objekt betreffen. […] Diesen Begriff hatte der Physiker Niels Bohr als Komplementaritätsprinzip in die Quantenphysik eingeführt und anschließend auf viele Gebiete übertragen. Deshalb wurde der Begriff vieldeutig und meint häufig nur noch ein grundsätzliches „Sowohl-Als-Auch“.
Auch im Blick auf die menschliche und göttliche Natur Jesu Christi könnte man in gewissem Sinn von Komplementarität sprechen. Ich räume also durchaus ein, dass es dieses Modell in der Bibel geben könnte. Aber das ist doch noch lange kein Beweis dafür, dass es sich mit der Erwählung Gottes und der Verantwortung des Menschen so verhält. Denn sobald jemand lehrt, Gott habe vor Grundlegung der Welt bereits einzelne Individuen für den Himmel erwählt, sagt er gleichzeitig, dass er die anderen Individuen nicht erwählt hat. Wenn diese Menschen aber nicht erwählt wurden, haben sie keine Chance, der Hölle zu entgehen.
Aus meiner Sicht ist das Zwei-Schienen-Modell darum reine Augenwischerei, eine Beruhigungspille, die hilft, den strengen Calvinismus moderater zu machen. Aber noch einmal: Sobald gelehrt wird, dass Gott EINZELNE MENSCHEN vor Grundlegung der Welt ZUM HEIL erwählt hat, können per Definition NUR DIESE ERWÄHLTEN zum Glauben kommen. Die Nichterwählten KÖNNEN NICHT ZUM GLAUBEN kommen – was bleibt da noch für eine Verantwortung?
Diese Sicht könnte man zwar leicht mit der SOUVERÄNITÄT GOTTES in Einklang bringen, nicht aber mit seiner GERECHTIGKEIT und LIEBE. Ein souveräner Gott kann machen, was er will. Er ist niemandem Rechenschaft schuldig. Niemals aber darf Gottes Allmacht gegen seine Gerechtigkeit und Liebe ausgespielt werden. Der Gott der Bibel handelt immer seinem ganzen Wesen entsprechend.
Wenn Gott vor Grundlegung der Welt manche (besser: viele) Menschen nicht erwählt hätte, dann könnten diese armen Geschöpfe einmal vor dem Richter stehen und sagen: Warum hast du diese erwählt und uns nicht? Du bist doch Liebe. Hast du uns nicht geliebt? Du bist doch absolut gerecht. Warum hast du jene willkürlich vorgezogen?
Einer solchen Anklage wird sich der Schöpfer nicht gegenübersehen. Er ist absolut allmächtig, absolut gerecht und er liebt ohne jeden Unterschied. Darum müssen wir diese gut gemeinte menschliche Hilfskonstruktion von der Schrift her klar und deutlich ablehnen.
Zwei sich gegenseitig ausschließende Konzepte können nicht gleichzeitig wahr sein, und Unvereinbares kann nicht kompatibel gemacht werden.
Das Zwei-Schienen-Modell ist keine wirkliche Lösung.
Aus: „Warum ich weder Calvinist noch Arminianer bin – Verbindende Gedanke zu einem trennenden Thema“ von Wilfried Plock, CMD-Hünfeld, 2. Aufl. 2018, S. 141-143