18. Mai 2021

Auch der Apostel Paulus hat auf gewisse Leute den Eindruck schwärmerischen Wesens gemacht. Der Landpfleger Festus antwortete auf seine Verteidigungsrede1): Du bist von Sinnen, die vielen Bücher bringen dich in Wahnsinn hinein. Offenbar sprach er damit ein ähnliches Urteil aus, wie es unser Wort „Schwärmerei“ ausdrückt. Und zum Römer, dem in seiner ausschließlich weltlichen Bildung die christlichen, ja überhaupt die religiösen Dinge fremd und unverständlich sind, gesellt sich des Paulus eigene Gemeinde in Korinth, nämlich in der Zeit, da sie stark beeinflusst und verwirrt war durch fremde, jüdische Agitation. Bin ich von Sinnen, schreibt er ihnen2), so ist es für Gott; bin ich vernünftig, so ist es für euch! Haltet mich, wenn ihr wollt, für unsinnig, dieses Zeugnis müsst ihr mir lassen, ich lebe für Gott, und nur um ihn ist’s mir zu tun; wollt ihr mich für vernünftig gelten lassen, nun wohl, meine Vernünftigkeit kommt euch zugut, denn sie steht in eurem Dienst. Paulus hätte seiner Gemeinde diese Wahl nicht vorgelegt, hätte man nicht dort gesagt: „Er schlägt über in Schwärmerei.“ So zeigen uns diese Erlebnisse des Apostels, dass auch das lauterste, in gottgeschenkter Herrlichkeit leuchtende Christentum dem Urteil verfallen kann, es sei Schwärmerei. Nur umso gewichtiger wird die Frage: Was ist denn wirklich Schwärmerei?

Paulus hat sich den Korinthern gegenüber selbst über das Motiv ausgesprochen, das solche Urteile über ihn erzeugte. „Bin ich von Sinnen, so ist es für Gott, bin ich vernünftig, so ist es für euch; denn die Liebe Christi hält mich umschlossen, da ich dieses Urteil fällte, dass einer für alle starb, folglich alle starben; und er starb für alle darum, damit sie ihm leben. Somit kenne ich niemand nach dem Fleisch, das Alte ist vergangen!“ Wir sehen, welche Bedeutung für Paulus die eine Tatsache hat, dass der Gekreuzigte lebt. Die Welt mit allem, was sie in sich schließt, ihr Höchstes und Heiligstes in-begriffen, Tempel, Priestertum, Gesetz, alles ist ihm untergegangen und dahingefallen mit dem Tode des Einen, der ihm alles ist. Und dieses nicht nur in der Theorie: „Ich kenne niemand nach dem Fleisch, sei er Heide oder Jude, Knecht oder Freier, Zöllner oder untadelhaft nach dem Gesetz, einerlei, das Alte ist vergangen!“ Und an die Stelle dieser untergegangenen Welt trat ihm ein einiges, eben der, welcher starb und lebt, an dem nunmehr in machtvoller, unzerspaltener Einheit und Geschlossenheit all sein Denken, Lieben und Leben hängt. Sie erschraken in Korinth vor der Macht einer solchen Hingabe an den Einen. Ist das wirklich die Bedeutung des Kreuzes? Macht es zu allem Alten den absoluten Schluss? Mit dem Einen alle tot! Nein, das kann nicht sein! Dann blieb nur eine Folgerung, nämlich die: Der Weg, den Paulus geht, ist Schwärmerei. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Urteil des Festus. Auch in seinem Worte liegt ja eine gewisse Anerkennung für Paulus, nämlich die der Überzeugung, der Konsequenz, der Hingabe an die Idee, die ihn beherrscht. Allein er spricht von den „vielen Büchern„, nachdem ihm Paulus jenes Erlebnis erzählt hat, welches den Wende-, Angel- und Quellpunkt seines Lebens bildet. Die vielen Bücher. In der Tat, wenn das eine, woran Paulus all sein Denken und Handeln, Arbeiten und Leiden setzt, ein aus Büchern gesogenes Phantom ist, ein Wahn, dann treibt er Schwärmerei.

Hingabe des Lebens an Wahn ist Schwärmerei. Wo immer sie auftritt, ist in ihr ein treibender, regierender Gedanke, dem der Mensch Untertan geworden ist mit seiner ganzen Existenz. Schwärmerei macht Märtyrer, sie vermag alles, das ist ihre Größe und ihre Kraft, aber die sie treibende Idee ist ein Wahn. Nimmermehr wird es gelingen, die Grenzlinie zwischen vernünftigem und schwärmerischem Christentum nach irgendwelchen Maßstäben der Klugheit festzustellen, welche berechnen möchte, wie weit wir die Konsequenzen aus unserer religiösen Stellung ziehen wollen und wie weit nicht, welche Leistungen, wieviel Opfer, wieviel Hingabe wir für unseren Gott wagen wollen und was nicht. Das ist der Weg zur Heuchelei. Gott und seine Wahrheit hat ein absolutes Recht an uns. Nicht darin liegt des Schwärmers Verirrung, dass er alles tut und alles leidet, was seine Überzeugung fordert, und jedem Antrieb gehorcht, der sich aus seinem Christentum ergibt. Die Frage ist lediglich die, welchem Herrn er dient, ob der Wahrheit, ob dem Wahn!

In jedem Geschlecht und wiederum in jedem einzelnen innerhalb desselben kreuzen und verweben sich richtige und unrichtige Urteile, helle und trübe Motive aufs engste; aber Irrtum, falsche religiöse Vorstellungen sind nicht an sich schon Schwärmerei. Denn es steht das Zentrum und der Kern unserer Persönlichkeit, unser innerstes Ich, unser „Herz“ unserem erkennenden Bewusstsein in relativer Unabhängigkeit gegenüber. Wir können darum mitten aus trübster, einfältigster Unwissenheit heraus echt und lauter Gemeinschaft Gottes sich erheben sehen, wiederum kann reicher Einblick in die Höhen und Tiefen des Evangeliums enden in schändlicher Schwärmerei. Allerdings begünstigt trübe Dunkelheit des Erkennens ihr Entstehen, und Zeiten, in denen das Lehrwort der Schrift bedeckt ist, sind besonders empfänglich für sie; man denke nur ans Mittelalter mit seiner Geißler- und Kreuzfahrt und ihrem: Gott will es! Doch nicht das macht den Schwärmer, dass trübe, unrichtige Vorstellungen in seinem Geiste vorhanden sind, und nicht das bewahrt vor Schwärmerei, dass Wahrheiten unser Besitz geworden sind. Es handelt sich darum, welchen Elementen unseres inneren Eigentums die beherrschende Macht und dominierende Stellung zufällt, was sich ins Zentrum unserer Persönlichkeit zu stellen vermag und auswächst zum Quellpunkt unseres Lebens. Erinnern wir uns an das tiefgreifende Wort Jesu: Aus der Wahrheit sein!

Auch Einseitigkeit ist noch nicht Schwärmerei. Unser inneres Leben ist stets in gewisse Schranken gefasst, die es vorwiegend nach einer Seite leiten, und dieser eine Grundton desselben tritt umso energischer und wahrnehmbarer hervor, je kräftiger sich dasselbe entfaltet. Das hängt direkt mit jener göttlichen Ordnung zusammen, die uns nicht isoliert nebeneinander stellt, sondern aufeinander anweist und ineinander die Ergänzung gibt, und ist darum auch nichts Gefährliches und Schädliches, so lange nur jene göttliche Ordnung erkannt und geehrt wird und das Schriftwort uns verständlich bleibt: wir haben Gemeinschaft untereinander, wenn wir im Lichte wandeln3). Bildet sich freilich die Einseitigkeit ein, sie sei das Ganze, verliert der einzelne das Bewusstsein, dass er einer ist neben und mit vielen ändern gleichen Rechts und gleichen Berufs, dann ist allerdings die Einseitigkeit in Gefahr, in Schwärmerei überzugehen, dadurch, dass sie den eigenen Wahn nicht minder pflegt und betont als die ihr eignende Wahrheit, ja jenen höher schätzt und energischer verficht als diese, da derselbe der gemeinsamen Wahrheit gegenüber sich leicht als der uns auszeichnende und von anderen unterscheidende Sonderbesitz darstellt.

Kann auch christliche Schwärmerei entstehen? Wäre sie nur in der außerchristlichen Religiosität daheim, könnte man sagen: Wenn der Verehrer Molochs sein Kind in die Flamme des Altars warf, oder wenn der Hindu sich in den heiligen Ganges stürzt, oder wenn der Derwisch sein Glaubensbekenntnis schreit, bis er taumelt, da führt Wahn das Zepter, wo aber christliche Frömmigkeit vorhanden ist, da ist Klarheit und Licht, wieviel leichter wäre der Gang der Kirche! Sie wäre von einem Druck befreit, der auf ihre ganze Entfaltung überaus lähmend und störend einwirkt. Bei seinem Scheiden sagte Jesus seinen Jüngern4): Ich gehe, und ihr bleibt zurück, doch wisst ihr Weg und Ziel. Sie antworten ihm: Eben dies wissen wir nicht. Jesu Erwiderung ist höchst einfach. Das Ziel: wohin? Zum Vater. Und der Weg? Der Weg bin ich. Aber wie dies? Der Weg und die Wahrheit und das Leben! Dadurch wird Jesus der Kirche zum Wege, dass er ihr zur Wahrheit und zum Leben wird. Ist damit nicht innerhalb der Christenheit aller Schwärmerei ein Ende gemacht? Gewiss! Wenn nämlich Jesus unser Weg wird mit dem, was er uns in sich selbst als ein Einiges dargeboten hat, mit Wahrheit und Leben. Allein die christliche Geschichte des einzelnen und der Gemeinschaft ist nicht der unmittelbare Aus- und Abdruck der Fülle Jesu. Sie ist bedingt durch das, was wir derselben entnehmen und aus ihr uns aneignen. Wie nun, wenn wir das in jenem Wort Zusammengeknüpfte zerreißen und „die Wahrheit„ aus demselben herauslösen, wenn wir Christus zu unserem Weg machen und in ihm unser Leben suchen, doch seine Wahrheit nicht begehren, dann haben wir offenbar christliche Frömmigkeit vor uns, die sich Jesus hingibt und für ihn und ihm leben will, aber nicht Wahrheit in sich hat. Nun erträgt unser Geist keine völlige Leere, wir bedürfen eines geistigen Inhaltes, aus dem unser Leben seine Motive schöpft. Die von der Wahrheit leer gelassene Stelle bleibt nicht leer, da setzen sich nun Wahngebilde an, die bei der Richtung des Lebens auf Christus ebenfalls eine christliche Färbung erhalten werden, und die christliche Schwärmerei ist da.

Unser Verhältnis zur Wahrheit steht in direktem Zusammenhang mit den sittlichen Grundverhältnissen unserer Persönlichkeit. Ist innerer Anschluss an Christus vorhanden oder doch gesucht, ohne dass es zur Aneignung seiner Wahrheit kommt, so setzt dies notwendig einen Willensgegensatz und inneren Widerstreit gegen Christus und Gott voraus. Schwärmerei kommt nicht über uns als ein Leiden, das wie eine Erkrankung unser Christentum befällt, sie wächst aus unserem Willen hervor und ist darum stets Schuld. Die Schrift spricht in dieser Hinsicht sehr bestimmt: Diejenigen hassen das Licht und kommen nicht an das Licht, die Arges tun5), diejenigen gehorchen der Wahrheit nicht, die der Ungerechtigkeit gehorchen6), in Ungerechtigkeit hält man die Wahrheit darnieder7). Freilich, weil das Innerste der Person ein verborgenes ist, wird es selten möglich sein, schwärmerische Erscheinungen zurückzuverfolgen bis auf diesen ihren letzten Grund, und es muss stets unvergessen bleiben, dass die richterliche Funktion nicht uns übertragen ist.

Jene Sorglosigkeit, die sich des getröstet, dass schwärmerische Frömmigkeit doch Frömmigkeit bleibe und schließlich alles auf unser praktisches Verhalten ankomme, täuscht sich selbst. Dem Ursprung derselben entspricht ihre Wirkung. Allerdings darf das Wort Jesu nicht beschränkt und geschwächt werden, dass diejenigen ihm Bruder, Schwester, Mutter sind, die den Willen seines Vaters tun. Doch was ist Gottes Wille? Wer sich einmal redlich vor diese Frage gestellt hat, der weiß, dass und warum er der Wahrheit bedarf. Sie ist uns gerade deshalb unentbehrlich und dazu gegeben, damit wir den Willen Gottes wahrnehmen und tun. Das ist der Fluch und Unsegen der Schwärmerei, dass sie den Menschen durch ihre Wahnideen des Organs beraubt, den Willen Gottes zu erkennen, und ihn folglich aus der Bahn herausschleudert, in der er Gottes Willen tut. Die Grundordnungen Gottes sind uns zwar unmittelbar bekannt und gegeben; denn sie sind uns ins Herz geschrieben. Aber die Triebe, die von entwickelter Schwärmerei ausgehen, stehen auch an dieser Grenze nicht still. Sie vermag auch in dem Sinne alles, dass sie den einfachsten, fundamentalsten Inhalt des Gewissens auszulöschen und unwirksam zu machen vermag.

Blicken wir zunächst in die alte Kirche hinein. Etwa hundert Jahre, nachdem Paulus Kleinasien durchwandert hat, wurden die dortigen Gemeinden von der Kunde überrascht: Christus hat seiner Kirche neue Propheten geschenkt, einen Propheten mit Namen Montan, und neben ihm treten bald Prophetinnen in den Vordergrund. Es war eine Zeit der Gärung, wo bald hier einer auftrat, der einen Engel gesehen haben wollte, bald dort einer, der geheime Wissenschaft in erlogener Berufung auf einen Apostel ausbreitete. Die Vorsteher der Gemeinden waren genötigt und gewohnt, strenge Zucht zu halten und störende Elemente kurzweg aus der Kirche zu entfernen. Diese Bewegung jedoch griff weit um sich. Es fiel den Gemeinden das Urteil über die neuen Propheten schwer. „Oftmals und an manchen Orten“, sagt ein Zeitgenosse, „sind die Gläubigen Asiens ihretwegen zusammengekommen.“8) Schließlich brach man mit ihnen, und zwar völlig. „Wie ein Wolf“, klagt eine der Prophetinnen, „werde ich von der Herde weggescheucht; ich bin nicht ein Wolf, ich bin Wort und Geist und Kraft.“ Da sind im Gefängnis in Apamea Glieder der Kirche und Freunde der Propheten beisammen, beide gehen dem Tode entgegen aus demselben Grunde, wegen ihres Christennamens. Werden sie denn jetzt einander brüderlich die Hand reichen? Auch angesichts des gemeinsamen Martyriums haben die Glieder der Kirche den Anhängern der Propheten den Christennamen nicht zuerkannt. Woher jenes Schwanken des Urteils und die Ausbreitung der Bewegung und woher sodann dieser scharfe Bruch? Propheten! Jetzt ist, sagten ihre Freunde, der Geist aus Gott, der verheißene, ausgegossen und der Tröster da. Ein neues Pfingsten! Wo wäre ein Christ gewesen, der sich dessen nicht freute? Die Lehre der Propheten wich nicht ab von dem, was die Gemeinden als Christi Evangelium besaßen und teuer hielten. Während jene Engelschauer und Geheimlehrer sich mit allerlei Phantasterei trugen, bald einen oberen und unteren Gott verkündigten, bald aus Jesus ein gespenstisches Wesen machten und dergl., so war in Bezug auf die neuen Propheten kein Zweifel möglich: Sie hatten das Evangelium. Ihre Weissagung war: Der Herr ist nah! Unzweifelhaft ein apostolisches Wort, der eine große Gegenstand aller lebendigen Christenhoffnung; wer sollte sich nicht freuen? Daneben sind sie ernste Bußprediger, sie eifern gegen die Verweltlichung der Gemeinden und der Geistlichen, sie rufen die Kirche zum Fasten auf. Für die ernsten Glieder der Kirche war dies nicht im mindesten ein Grund, sie abzuweisen; im Gegenteil, das Gefühl, die Kirche gehe zurück, sie sinke, verglichen mit ihrer Erstlingszeit, den Jahren der apostolischen Arbeit, war weit verbreitet. So ist es verständlich, dass die Bewegung wuchs und die Gemeinden zunächst unsicher und schwankend waren in ihrem Urteil. Woher nun aber der Bruch und Bann wider sie? Der Prophet9) organisierte eine förmliche Evangelisation, von ihm bestellte und besoldete Boten kamen in die Gemeinden, die Losung war: Auf nach Pepuza! (Ein kleines Städtchen in seiner Heimat Phrygien.) Das ist das neue Jerusalem, wo der Herr erscheint, wo seine Gemeinde sich sammeln soll, ihn dort zu erwarten. Nun verstehen wir auch, warum es zum Bruche kam und kommen musste und die Prophetin weggetrieben werden müsste von den Gemeinden wie ein Wolf. Nun musste man sich entscheiden: Wollte man gehorchen oder nicht, die Propheten anerkennen oder nicht? Und man durfte nicht gehorchen. Hätte man gehorcht, wäre man überall in Kleinasien aufgebrochen, ausgewandert hin nach Pepuza, um dort zu warten, zu harren und schließlich enttäuscht, ernüchtert wieder auseinanderzugehen, — was wäre aus der Kirche Kleinasiens geworden! Welch ein Ruin, auch innerer Ruin!

Worin unterscheidet sich die neue Weissagung von der apostolischen Hoffnung? Hier wie dort war die gemeinsame Erwartung: Der Herr ist nah! Hat etwa die apostolische Zeit weniger innig, lebendig, kraft- und glutvoll auf Jesus gehofft? Denken wir doch nur an den Schluss des Neuen Testamentes: Ja, komm, Herr Jesus! Man kann nicht lebendiger hoffen, als es die ersten Jünger taten. Oder hielt etwa die apostolische Zeit ihre Hoffnung im Gefühl und Wort beschlossen, während nun Montan praktisch ernst mit ihr machte? Das wäre ein ganz unrichtiger Gedanke. Unmittelbar und machtvoll beherrschte die Hoffnung der ersten Gemeinde ihre ganze Praxis von jenem Tage an, da sie in Jerusalem Haus und Acker mit Freuden verkauften für die Armen, bis dahin, wo Paulus aus dem Gefängnis heraus seine Gemeinde zur Freude am Herrn und zur Lindigkeit gegen alle Menschen mahnte; denn der Herr ist nah!10) Aber die Richtung, in welcher die Hoffnung hier und dort praktisch wird, das Ziel, auf welches sie die Tätigkeit hintreibt, ist ein ganz verschiedenes. „Wer solche Hoffnung hat, der reinigt sich selbst.“ Diese Konsequenz zog die apostolische Zeit aus ihrem Hoffen, nicht aber leiteten sie daraus für sich die Aufgabe ab, dass sie nun das Reich Christi machen, irgendwie ins Werk setzen und vorwegnehmen müssten! Als sie in Thessalonich nicht etwa nach irgendeinem neuen Jerusalem auswanderten, nein, nur die Arbeit einstellten, da schrieb ihnen Paulus deutlich und derb: Wollt ihr nicht arbeiten, so esst auch nicht; wenn ihr schon verklärte Menschen seid, so seid es ganz, dann lässt auch das Essen bleiben. Darin tritt handgreiflich der Gegensatz zutage zwischen der apostolischen Hoffnung und der neuen Weissagung. Montan bestimmt die Zeit: jetzt kommt Jesus; den Ort: hier in Pepuza! Hätte er sich nun damit begnügt, mit entzückten Blicken die Gefilde Pepuzas zu betrachten im Gedanken, dass hier die Stätte der Herrlichkeit Jesu sei, so wäre das wohl Irrtum, doch noch keine gefährliche Verirrung gewesen. Allein sein Traum wird in ihm und über ihm zur Macht, die ihn beherrscht. Er unternimmt es, die Gläubigen zu sammeln, das Reich Christi anzubahnen und herzustellen. Er gebietet im Namen Christi den Gemeinden: hierher alle! Er setzt sein, und nicht nur sein, auch der anderen Leben an seinen Traum. Das war Schwärmerei, Hoffnungsschwärmerei.

Es lässt sich an der Schwärmerei oft beobachten, dass sie ohne Bedenken das Menschlich-Natürliche in Stücke reißt. Bewahrung der natürlichen Stellung, Erfüllung der natürlichen Pflicht gilt ihr nichts. Auch Montan weist diesen Charakterzug derselben auf. Sein Gebot hätte alle natürlichen Verhältnisse und Verpflichtungen der Gemeinden zerrissen. Das kümmerte ihn nicht. Gleichzeitig ist er, soviel wir wissen11), der erste, der für geistliche Arbeit feste Gehälter zahlte und zu diesem Zwecke ein geordnetes Kollektenwesen organisierte. Schwärmerische Richtung und praktische Klugheit, erfinderische Benützung der äußeren Faktoren schlössen sich also auch bei Montan nicht aus. Man hat weiter in der Kirche Montan mit Grund dies zum Vorwurf gemacht, dass er das Fasten, zu dem er die Gemeinden aufrief, ihnen als Gesetz auferlegte, indem er bestimmte Fasttage als göttliches Gebot vorschrieb. Auch dies ist ein charakteristischer Zug. Schwärmerei und Bewahrung unserer Freiheit in Christus erwiesen sich stets als unverträglich. Es bleibt bei Jesu Wort: Die Wahrheit wird euch frei machen. Neben den Forderungen der Propheten erregte auch die Form ihres „Weissagens Anstoß. Sie hatten visionäre, bewusstlose Zustände, und sie legten gerade auf die Bewusstlosigkeit derselben Gewicht, weil in ihr die Garantie liege, dass sie rein aus Gott, nicht aus sich selbst reden. Aus visionären Erlebnissen sofort auf schwärmerische Störungen des inneren Lebens zu schließen, wäre übereilt, wie ein Blick auf die Propheten Israels und wieder auf die Apostel zeigt. Aber die Hochschätzung ekstatischer Bewusstlosigkeit ist jedenfalls ein krankhafter Vorgang, wieder jene Unnatur, wie sie sich auch in Montans Geboten zeigt. Wie wenig versteht er doch vom Wesen und Wirken des Geistes, wenn er die Herrlichkeit und Macht desselben in Zuckungen und Irreden zu erkennen glaubt, bei allem Ruhm des Geistes, wie ungeistliche Gedanken über den Geist! Und hier dürften wir an der Wurzel der ganzen Verirrung stehen. Sie hatten ekstatische Zustände, kein Zweifel! Damit begann die Bewegung; aber berechtigten diese zu dem Schluss: Nun erst ist Gottes Geist da! Die anderen haben ihn nicht oder doch nicht so reichlich wie wir; wir sind die Propheten, berufen, die Endzeit einzuleiten und die Gemeinde hinüberzuführen in ihren Verklärungszustand? „Ich bin Wort und Geist und Kraft“, denn ich habe ekstatische Zufälle — da steckt wohl die faule Wurzel, die in den Pepuza-Wahn auswuchs. Selbstüberhebung ist nicht nur häufig Begleiterin, sondern oft direkt Wurzel und Grund der Schwärmerei. Hier in der Schätzung der eigenen Person, eigenen Gabe und Aufgabe geschieht leicht der Bruch mit der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, so dass hier der Fruchtboden sich herstellt, auf dem die Illusionen und Phantastereien keimen und die Wahnideen sich bilden, aus dem sie auch ihre Kraft ziehen, die sie zu Herren über die Menschen macht, so dass er sein Leben an sie setzt.

Die nordafrikanische Kirche, einer der blühendsten Bezirke der alten lateinischen Christenheit, bietet uns ein zweites, lehrreiches Beispiel hierfür. Dieselbe war schwer getroffen worden von der letzten großen Verfolgung der Christen unter Diokletian12). Diese hatte neben vielem Märtyrermut auch viele zur Verleugnung getrieben, namentlich unter den Geistlichen, von denen die heidnischen Behörden allerorts die Auslieferung der den Gemeinden gehörenden heiligen Schriften, Kirchengeräte, Abendmahlskelche usw. verlangten. Wer sie verweigerte, verfiel dem martervollen Tode, wer sie auslieferte, galt in den Augen der Gemeinden und in seinem eigenen Gewissen als „gefallen„. Mancher beugte sich feig, andere gingen unredliche Schleichwege, nahmen eine Scheinauslieferung vor und dgl. Nach den Ordnungen der bisherigen Kirchenzucht verlor ein Geistlicher, der in der Verfolgung verleugnete, sein Amt. Allein mancher von den Gefallenen amtierte fort. Wenn die Sache heimlich geblieben war, machte er sie nicht selbst öffentlich. Mit dem Ende der Verfolgung erhob sich nun gegen diese gefallenen Geistlichen eine eifernde Protestpartei. Was ist die Kirche noch, wenn Verleugner und Bekenner in ihr nebeneinander stehen? Was sind die Sakramente in der Hand eines Mannes, der Christus verleugnet hat, also selbst gar nicht mehr zur Kirche gehört? Wozu das Martyrium, wenn die Verleugner auf den Bischofsstühlen bleiben. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Protestpartei auf dem Boden des gültigen kirchlichen Rechtes und der bisherigen Praxis stand. Aber wer wollte bei der allgemeinen Verwirrung der Verhältnisse sichten und richten, untersuchen und beweisen? Der Eifer der Protestierenden konzentrierte sich schließlich gegen den neugewählten Bischof von Karthago, der ihnen schon vorher wegen seines Verhaltens gegenüber den Märtyrern verhasst gewesen war. Er war nicht selbst ein Verleugner, aber ein als solcher verdächtiger Bischof hatte ihn geweiht, also hat er sich der Sünde desselben teilhaft gemacht, schon dies ein höchst gefährlicher Schluss. Sie separierten sich von ihm, riefen das Urteil der auswärtigen Kirche an, führten ihre Klage vor mehreren Synoden, schließlich vor des Kaisers persönlichem Gericht, sie wurden abgewiesen. Und als sie nun geschlagen nach der letzten Appellation heimkehrten, da zogen sie aus ihrem Erlebnis diesen Schluss: Die ganze Kirche allerorts ist gefallen und nicht mehr Christi Kirche, sie haben alle verleugnet oder doch mit den Verleugnenden gemeinsame Sache gemacht und so sich an ihnen befleckt; wir allein sind die Christo bis zum Tod getreue, heilige Gemeinde der Märtyrer. Aber nun, seitdem Konstantin regierte, genoss die Kirche volle Ruhe und Sicherheit; wo waren denn nun die Märtyrer? Man hatte das Martyrium so hoch gepriesen, so leidenschaftlich für dasselbe gekämpft, durfte nun der Kirche dies ihr Wahrzeichen und ihr Schmuck verlorengehen, sollte Christus keine Zeugen mehr finden, die für ihn ihr Leben opferten? Die Stellung, die man innerlich eingenommen hatte, drängte vorwärts, wohin? In den Selbstmord hinein. Wurde irgendwo noch ein heidnisches Fest gefeiert, so kamen Scharen herbei, störten dasselbe und ließen sich ohne Widerstand niederschlagen. Aber die Gelegenheit zu solchem Zeugentod war selten. So stürzte man sich über die Felsen hinab, Christo zu Ehren, als ein heiliges Martyrium. „Wir sehen uns mitten in heidnische Schwärmerei zurückversetzt. Der pure, zweckloseste Selbstmord gilt als Verherrlichung Christi, und dies in einer Kirche, die aufs nachdrücklichste betonte, dass die Kirche aufhöre, Christi Kirche zu sein, wenn sie nicht heilig und unbefleckt sei. Billigten die Leiter der Separation das neue Martyrium nicht, so konnten sie es doch nicht hindern. Sie waren gebunden und wehrlos um des Risses willen durch die Wahrheit und den Wahrheitssinn, der damals geschehen war, als sie das Martyrium zum einigen, unentbehrlichen Kennzeichen des Christen und der Kirche machten, nun wirkte sich der Wahn aus in wilder Märtyrschwärmerei.

In dem, was der Schwärmerei fehlt, liegt allein ihre Überwindung, in der Wahrheit nämlich. Wer auf die Wahrheitsfrage verzichtet, schneidet sich damit jede Möglichkeit ab, zwischen gesunder und schwärmerischer Religiosität zu unterscheiden. Und in der skeptischen Verseuchung unseres Denkens liegt der Grund, weshalb wir den schwärmerischen Erscheinungen der Gegenwart so wehrlos gegenüberstehen. Der Gamalielsrat bewahrt vor Schiffbruch nicht, heute so wenig, als er damals die, die Jerusalems Schicksal in ihrer Hand trugen, vor dem Untergang rettete. Wir müssen absehen vom Erfolg äußerer oder innerer Art fragen lernen nach dem, was Wahrheit ist vor Gott. Verzagtem Kleinmut, der sich nicht an diese Frage wagt, ist ein Doppeltes zu sagen, einmal dies: Enthielt die Schrift die Korrektur zum Pepuzawahn oder nicht? Gab sie dem selbstmörderischen Märtyrer Aufschluss über den Wert seines Tuns oder nicht? Wies sie das tändelnde Spiel mit Jesu Liebe zurecht oder nicht? Die Schrift hat sich tatsächlich an aller christlichen Schwärmerei als das zweischneidige Schwert erwiesen, das bis ins Innerste scheidend dringt, sie wird dieselbe Funktion auch an aller modernen Schwärmerei üben. Sodann, mag uns die Wahrheit unerreichbar hoch scheinen, so liegt doch Wahrhaftigkeit zweifellos in unserem Bereich. Wie die Wahrheit ihren subjektiven Widerhall in der Wahrhaftigkeit hat, so ruft der Wahn notwendig die innere Künstelei, Gewalttaten, die die Wahrnehmung hemmen, und absichtliche Erregung von Empfindungen und Strebungen, die man nicht hat, hervor. Bietet auch der Abscheu vor religiöser Schauspielerei noch nicht Einblick und Urteil über Bewegungen, die uns umgeben, so doch persönlichen Schutz der eigenen Lebensentfaltung. Religiöse Künstelei aber verwirft die Schrift deutlich genug.

Wahrheit! Sie allein ist es wert, dass der Mensch seine Person und sein Leben an sie setzt. Je vollständiger er es tut, umso mehr gesundet er. Paulus konnte auf das Urteil des Festus mit vollem Recht antworten: „Ich rede vernünftige Worte„, darum, weil er sich dem wahrhaftigen Gott ergeben hat, — dem, der die Wahrheit ist14).

 

Anmerkungen

Veröffentlicht: Heidelberg Winter 1883, in: Sammlung von Vorträgen für das deutsche Volk 10,8.

1) Apg. 26, 25.

2) 2. Kor. 5, 13.

3) 1. Joh. 1, 7.

4) Joh. 14, 4 ff.

5) Joh. 3, 19—21; vgl. Eph. 5, 13.

6) Rom. 2, 8; vgl. 2. Thess. 1, 8.

7) Rom. 1, 18, vgl. 2. Thess. 2, 10—12.

8) Der Ungenannte bei Euseb. bist. eccl. V, 16, 10.

9) Nach dem Zeugnis des Apollonius bei Euseb. hist. eccl. V, 18, 2.

10) Phil. 4, 4 ff.

11) Vgl. die Vorwürfe des Apollonius Euseb. hist. eccl. V, 18, 2.

12) Beginn 298 unter Diokletian, Ende 311 unter Galerius.

13) Die Reformationsgeschichte von St. Gallen wurde gewählt einmal im Blick auf die eingehenden und zuverlässigen Aufzeichnungen Keßlers in seiner Sabbata, herausgegeben vom historischen Verein St. Gallens 1866, sodann weil sich die Bewegung dort ungehindert entfalten konnte.

14) Vgl. Schlatter, Die korinthische Theologie, Beiträge XVIII, 2.