Corona und Obrigkeit: Wie sollen sich Christen verhalten?

Dr. Wolfgang Nestvogel, Hannover

Eine Stellungnahme von Wilfried Plock, Hünfeld / Hessen (15.08.2020)

Foto: https://www.youtube.com/watch?v=fdc_AsXuUIs&t=2576s

 

Ende April 2020 sprach Wolfgang Nestvogel in der Bekennenden Evangelischen Gemeinde Hannover (BEG) über 1. Petrus 2,11-17.

Ich schätze Wolfgang Nestvogel als Bruder und Diener des Herrn. Darum habe ich ihn in den letzten Jahren mehrmals zu Vorträgen eingeladen. Ich stimme auch einem großen Teil seiner Veröffentlichungen zu. Aber in diesem Fall nicht.

Darum möchte ich brüderlich und völlig unaufgeregt einige seiner Aussagen anhand der Schrift beleuchten. Ich tue das nicht, um ihn oder seine Gemeinde zu diskreditieren, sondern weil diese Thematik zurzeit sehr heftig in Familien, Kirchen und Gemeinden diskutiert wird.

Jemand schrieb: „In vielen Fällen ist eine Erwiderung und eine von Respekt geprägte Debatte sinnvoll und führt zu guten, fruchtbringenden Ergebnissen (vgl. Apg 15, Gal 2,11). Die notwendigen Voraussetzungen dafür sind dabei (1) Demut, die sich unter anderem darin zeigt, dass ein eigenes Irren nicht kategorisch ausgeschlossen wird und (2) ein prinzipielles Wohlwollen für den anderen, auch wenn man ganz und gar nicht mit des anderen Meinung übereinstimmt oder sie sogar für gefährlich hält.“ Ich hoffe sehr, dass beide Voraussetzungen im Blick auf diese Gedanken auf beiden Seiten erfüllt sind.

Das Thema „Unterordnung unter die Obrigkeit“ ist schließlich keine Kleinigkeit. Ich möchte nicht, dass die Gemeinden Jesu Christi in den Medien (noch mehr) als Corona-Rebellen oder Ähnliches wahrgenommen wird. Darum will ich auf der Sachebene argumentieren und vielleicht neue Gedankenanstöße geben. Wolfgang Nestvogel hat diesen Text zuvor zur Kenntnis erhalten.

Die vom TOPIC-Informationsdienst (Juli 2020) zusammengefassten Gedanken Wolfgang Nestvogels kennzeichne ich mit „WN“, meine Anmerkungen mit „Plock“.

WN: Am 26. April 2020 beschäftigte sich Dr. Wolfgang Nestvogel, Pastor der Bekennenden Ev. Gemeinde (BEG) in Hannover, exakt mit dieser Thematik unter dem Leitgedanken „Wie bewähren wir uns als Christen in diesem Staat?“. Seiner Predigt legte er einen Bibeltext aus dem 1. Petrusbrief Kapitel 2 (11-17) zu Grunde. Darin ermahnt der Apostel zunächst die Christen zu einem „guten Wandel unter den Heiden“ und packt dann das Thema „Unterordnung der Christen in einem Staatswesen an“.

Nestvogel unterteilt seine Predigt in drei Hauptabschnitte: 1. „Die Voraussetzung der Unterordnung“, 2. „Die Tragweite der Unterordnung“ und 3. „Die Grenzen der Unterordnung“. Wie muss dieser thematische Dreierpack in einer Demokratie bewertet werden? Ist „Berlin“ die alleinige Obrigkeit? Haben die Ministerpräsidenten die Rolle von Fürsten im Lande, deren Direktiven man sich bedingungslos zu unterwerfen hat? Was bedeutet der Petrus-Text „Seid untertan aller menschlichen Ordnung“ in einem Deutschland, in dem alle vier Jahre politische Spitzenämter neu besetzt werden können?

PLOCK: Diesen Abschnitt will ich unkommentiert lassen, obwohl die Fragestellung schon in eine gewisse Richtung deutet.

WN: Die griechischen Wörter, die für „aller menschlichen Ordnung“ in der Bibel verwendet werden, bedeuten: Diese Ordnung ist größer als eine Person. Es geht im Wortsinn darum, sich einer verbindlichen, über allem stehenden Schöpfungsordnung unterzuordnen.

PLOCK: Wie kommt Wolfgang Nestvogel hier von „aller menschlichen Ordnung“ auf die Schöpfungsordnung? Menschliche Ordnung bedeutete damals, sich dem Kaiser und all denen, die er autorisiert hatte, unterzuordnen. Für uns heute: die Bundes- und Landesregierung, den Bürgermeistern, den Gerichten und Vollzugsorganen (Polizei, Zoll etc.).

WN: Exakt auf dieser Ordnung fußen große Teile unseres Grundgesetzes. Wenn es z. B. zum Schutz der Ehe aufruft oder die Erziehung der Kinder als „natürliches Recht der Eltern“ festschreibt, entspricht das göttlichen Ordnungen bzw. der jüdisch-christlichen Ethik. Nestvogel sieht die Unterordnung eines Christen in einer Demokratie auf drei Ebenen verortet: 1. auf einem geordneten Staatswesen nach göttlichem Prinzip, 2. in der davon abgeleiteten Rechtsprechung im Grundgesetz als menschliche Gestaltung und 3. bei den persönlichen Gestaltern, den Amtsinhabern, die alle dem Grundgesetz verpflichtet sind.

PLOCK: Das ist die Ansicht oder Interpretation von Wolfgang Nestvogel. Als Paulus und Petrus damals schrieben, waren grausame römische Kaiser an der Macht. Kann man da von einem „geordneten Staatswesen“ sprechen? Es gab außer dem Kaiser zwar noch den Senat und die Volksversammlung. Aber letztlich waren die Kaiser doch mehr oder weniger Diktatoren.

WN: Laut Artikel 20 des Grundgesetzes geht „alle Staatsgewalt vom Volke“ aus. Das bedeutet: Allein die Wähler bestimmen die Amtsträger für ihre Obrigkeit. Somit sind alle Wähler in gewisser Weise immer auch Teil dieser Obrigkeit, was auch der Artikel 20 in seinem Absatz 4 deutlich macht. Absatz 4 erlaubt jedem Deutschen, Widerstand zu leisten, wenn die gewählte Obrigkeit die verfassungsmäßige Ordnung beseitigen will.

PLOCK: Auch diese Herleitung halte ich für gewagt. Ich glaube nicht, dass sie mit dem biblischen Befund übereinstimmt. Petrus und Paulus hätten niemals geschrieben: Ihr Christen seid alle Teil der Obrigkeit.

Übrigens, jemand wies in einem Blogbeitrag darauf hin, das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, dass Eingriffe in den Artikel 4 GG aufgrund der Corona-Pandemie gerechtfertigt sein könnten, was bis zum (befristeten!) Gottesdienstverbot gehen könne (vgl. Beschluss vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20).

WN: Das bedeutet: Auch die gewählte Obrigkeit muss sich in gewisser Weise unterordnen: der Verfassung sowieso und bestenfalls, was die Präambel des Grundgesetzes schon in ihren ersten Worten deutlich macht: „In Verantwortung vor Gott …“ will heißen: Das göttliche Prinzip der Schöpfungsordnung sollte bestimmend sein.

Nestvogel ruft in seiner Predigt zu einer „reflektierten Unterordnung“ auf, die aus biblischer Sicht „nicht blind, sondern sehend“ urteilt. Für den BEG-Pastor ist klar, dass eine Unterordnung nicht bedeutet, die Verantwortung für die gesellschaftliche Situation blind an den Staat abzutreten: „Der Staat sind ja wir!“

PLOCK: Einverstanden. Wir Christen sollten sehr wachsam und interessiert das Zeitgeschehen verfolgen – auch das politische. Wir Gläubigen können das Wahlrecht ausüben, Petitionen einreichen, an friedlichen Demonstrationen teilnehmen – aber vor allem treu für diejenigen beten, die Verantwortung tragen (1Tim 2,1-2).

WN: Weil Christen sich allein einer göttlichen Schöpfungsordnung und in Deutschland dem Grundgesetz unterordnen sollen, gibt es auch deutliche Grenzen für die Unterordnung.

PLOCK: Aus Unterordnung unter die Obrigkeit wird hier „Unterordnung unter die Schöpfungsordnung und das Grundgesetz?“ Ist dieser intellektuelle Winkelzug wirklich biblisch haltbar? Mich beschleicht die Sorge, dass hier eine politische Grundeinstellung die Auslegung der Schrift beeinflusst haben könnte.

WN: Im 14. Vers des Petrus-Textes heißt es, Verantwortliche im Staat sollen Gutes loben und Übeltäter bestrafen. Doch was ist, so fragt Nestvogel, „wenn die Machtfaktoren, die sich im Staat durchsetzen, diesen Auftrag ins Gegenteil verkehren, nämlich die Bösen belohnen und die Guten bestrafen?“

PLOCK: Das hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Dennoch müssen wir fragen: Gibt es eine Schriftaussage, die uns Christen erlaubt, uns der grundsätzlichen Unterordnung zu entziehen, wenn sich ein Staat von seiner Verfassung entfernt oder willkürlich handelt etc.? Wenn die Obrigkeit Christen zwingt, die Gebote Gottes zu übertreten oder die Verkündigung des Evangeliums unterbinden will, dann – und nur dann – sollen wir Gott mehr gehorchen als den Menschen, was uns dann zwangsläufig ins Leiden um Jesu willen führen wird.

WN: Immer wieder weist Nestvogel auf die „reflektierte Unterordnung“ hin, die sich auch im Petrus-Text zeige: Unterordnung in einem Staat ja, aber nur, wenn die Amtsträger das Gute loben und das Böse bestrafen.

PLOCK: Dieser gedankliche Schluss ist meines Erachtens unzulässig. In der Praxis würde das Christen schon beim geringsten Fehlverhalten der Obrigkeit eine Türe öffnen, sich der Unterordnung zu entziehen. Ob unser Herr in seinem Umgang mit ungerechter Behandlung seiner Person hier ein Vorbild sein könnte? Er benennt das Unrecht, bekämpft es aber nicht („… wenn nicht, was schlägst du mich?“ [Joh 18,23]). Paulus berief sich bekanntlich in Philippi auf sein römisches Bürgerrecht. Aber auch er macht damit lediglich auf Unrecht aufmerksam – und blieb trotzdem grundsätzlich der Obrigkeit untertan (Apg 16,36-39).

WN: „Sollte der Staat fordern, was Gott verbietet, dann dürfen wir dem Staat nicht gehorchen!“ Als Beispiele nennt er „kirchliche Trauungen von Homosexuellen“ oder „Teilnahme an interreligiösen Zeremonien“. „Wenn der Staat erlaubt, was Gott verbietet, ist für uns Gottes Wort verbindlich wie z. B bei der de facto erlaubten Abtreibung von Kindern aus sozialen Gründen.“ Der evangelikale Pastor weiter: „Sollte der Staat verbieten, was Gott fordert, dann müssen wir es trotzdem tun. Das bedeutet z. B. ein klares Bekenntnis zur göttlichen Schöpfungsordnung gegen die Gender-Ideologie oder ein Verbot, Jesus als einzigen Retter zu verkündigen.“

PLOCK: Jawohl, einverstanden.

WN: Was bedeutet nun diese Schau der Unterordnung in einer Demokratie hinsichtlich des Verhaltens von Christen in der Coronakrise? Kein Diskussionspunkt sollte sein, ein Verhalten an den Tag zu legen, das nicht 100 Prozent darauf ausgelegt ist, den Nächsten, den Schwächeren vor einer Ansteckung mit einer schweren Erkrankung zu schützen.

PLOCK: Prima.

WN: Sobald aber die Gefahren einer Ansteckung stark zurückgehen, sich gar verflüchtigen, sind Forderungen gerechtfertigt, um Grundrechte wieder schnell herzustellen, die das Grundgesetz festschreibt. Und dazu heißt es in Artikel 4 des Grundgesetzes: „… Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Dazu gehören in jedem Fall die uneingeschränkte Versammlungsfreiheit, das Singen ohne Vorbedingungen sowie die Feier des Abendmahles in seinen unterschiedlichen Formen.

PLOCK: Wenn einzelne Christen oder Gemeinden in einem solchen Fall „Forderungen“ einreichen wollen, so steht ihnen der Rechtsweg oder eben das Mittel einer Petition etc. offen. Wann der Zeitpunkt für Lockerungsmaßnahmen gekommen ist, entscheiden jedoch die staatlichen Behörden – nicht der einzelne Christ nach Gutdünken.

Wenn also aus Gründen des Gesundheitsschutzes Einschränkungen verordnet werden, wollen wir ihnen Folge leisten. Wenn der Staat die Zusammenkünfte der Christen aus weltanschaulichen Gründen generell verbieten würde, dann sollten wir Jesus-Leute Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 4,19-20; 5,29).

Fazit: Ich halte die Argumentation von Dr. Nestvogel für sehr gewagt, ja an einzelnen Stellen auch für gefährlich. Ich stelle seine guten Motive nicht in Frage. Er handelt sicherlich nach bestem Wissen und Gewissen.

Aber das tue ich auch. Es werden gewiss noch Zeiten kommen, wo uns unsere Treue zu Christus ins Gefängnis bringen kann. Aber wegen Corona? Es wird auch eine Zeit nach Corona geben.

Fazit: Ich halte die Argumentation von Dr. Nestvogel für sehr gewagt, ja an einzelnen Stellen auch für gefährlich. Ich stelle seine guten Motive nicht in Frage. Er handelt sicherlich nach bestem Wissen und Gewissen.

Aber das tue ich auch. Es werden gewiss noch Zeiten kommen, wo uns unsere Treue zu Christus ins Gefängnis bringen kann. Aber wegen Corona?

Das wichtigste ist, dass wir Christen uns wegen dieses Themas nicht bekämpfen und schon gar nicht spalten. Das ist die Sache nicht wert. Es wird auch eine Zeit nach Corona geben. Darum lasst uns – mit oder ohne Beschränkungen – weiter das Evangelium von Jesus Christus verkündigen und aneinander in Liebe festhalten (Joh 13,34-35; 1Joh 3,16).