Das Schriftstelle in Hebräer 10,24-25 gehört zu den Bibelworten, die am häufigsten falsch verstanden und angewendet werden. Kann man Gläubige mit Vers 25 ermahnen, wenn sie einmal den Gottesdienst versäumen, weil sich beispielsweise seltener Besuch angesagt hat?

Oder greift diese Passage, wenn staatliche Behörden aus Gründen des Gesundheitsschutzes vorrübergehend alle religiösen Veranstaltungen – inklusive christliche Gottesdienste – untersagen? Mit anderen Worten: Gibt es ein wöchentliches Versammlungs-Gebot im Neuen Testament?

Schauen wir uns die Hebräer-Stelle genau an:

Hebräer 10,24-25 (Schlachter 2000):

…und lasst uns aufeinander achtgeben, damit wir uns gegenseitig anspornen zur Liebe und zu guten Werken, indem wir unsere eigene Versammlung nicht verlassen, wie es einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr den Tag herannahen seht!

Für „Versammlung“ wird hier episynagoge und für „verlassen“ enkataleipo verwendet.

Versammlung, von epi (auf), und synago versammeln, sammeln. Es bedeutet Sichversammeln bei, Versammeltwerden (2Thess 2,1); Zusammenkommen an einem Ort (Hebr 10,25). In Hebräer 10,25 ist nicht nur die gottesdienstliche Versammlung der Gemeinde gemeint, von der einige fernbleiben, sondern auch das Versammeltsein zum gemeinsamen Gottesdienst als Lebensstil, nicht als einmaliges oder gelegentliches Tun.

Das Verb (enkataleipo), verlassen bedeutet links liegen lassen, vernachlässigen, aufgeben, welches als Ausdruck für das Tun eines Verräters benutzt wird. Es ist zu stark für ein bloßes Vermeiden der gottesdienstlichen Versammlung (vgl. 2Kor 4,9; 2Tim 4,10.16). Es bezieht sich eher auf die Trennung von der örtlichen Gemeinde aus Furcht vor Verfolgung.

Die Präpostition epi, auf, zu, in episynagoge deutet in Hebräer 10,25 wohl auf Christus selbst hin als den einen, zu dem diese Versammlung gehört. Deshalb will der Schreiber des Hebräerbriefes hier dazu ermahnen, die Verbindung mit den anderen Gläubigen und mit Christus nicht zu verraten und seine eigene Verantwortung als Teil des Leibes Christi nicht zu vernachlässigen. Die Christen werden also in Hebräer 10,25 aufgefordert, die Gläubigen nicht zu verlassen, sich nicht von ihnen abzuwenden, sie nicht hinter sich zu lassen.     

Quelle: Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel, Brockhaus Verlag, Wuppertal, 1 Aufl. 2005, Strong-Nummer 1983, S. 2106 und Strong-Nummer 1454, S. 2075

 

Dr. Fruchtenbaum zu Hebräer 10,25

Wenn wir den Kontext dieser Aussage im Hebräerbrief untersuchen, dann handelt es sich hier um jene Hebräerchristen, die in Gefahr waren, die christliche Versammlung als solche zu verlassen, um u.U. sogar wieder ins Judentum zurückzukehren. Juden standen unter dem Toleranzedikt des Caesar und durften ihre alttestamentlichen Gottesdienste durchführen. Christen nicht! Christen saßen zwischen allen Stühlen. Darum liebäugelten manche mit dem Gedanken, unter den jüdischen Schutzschirm zu schlüpfen, um der Verfolgung zu entgehen. Genau diese Gläubigen ermahnt der Schreiber des Hebräerbriefs.[1]

 

Fazit:

Das Zusammenkommen der Gläubigen ist wichtig. Aber es würde wirklich zu weit gehen, wenn wir daraus ein Gebot konstruieren würden, dass quasi alle Versammlungen bzw. Veranstaltungen einer Gemeinde besucht werden müssten. Es gibt Alte, Kranke, Schwache, Behinderte – und Geschwister, die wegen der Ausübung ihres Berufes verhindert sind. Dürfte man sie konsequenterweise als ungehorsam bezeichnen? Das wäre absurd.

Manche argumentieren dann schnell mit Apostelgeschichte 2,42:

Und sie blieben beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und in den Gebeten.

Vorsicht! Das ist ein BEschreibender Text – kein VORschreibender! Selbstverständlich kommen wir als Christen gerne zusammen, um diese vier wichtigen Elemente des neutestamentlichen Gemeindelebens zu genießen. Aber, es ist kein Gebot!

Wenn also zurzeit aus Gründen des Gesundheitsschutzes Einschränkungen verordnet werden, wollen wir ihnen Folge leisten. Das ist kein Ungehorsam gegen die Schrift!

Wenn der Staat die Zusammenkünfte der Christen aus weltanschaulichen Gründen generell verbieten würde, dann sollten wir Jesus-Leute Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 4,19-20; 5,29).

 

[1] vgl. Arnold G. Fruchtenbaum: Der Hebräerbrief, CMD-Hünfeld, 6. Aufl. 2018, S. 188-189

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