Georg WALTER / 28.12.2019

 

Der Schweizer reformierte Theologe Emil Brunner (1889-1966) befasste sich in seinem Werk Dogmatik II mit dem Thema „Die Vorsehung Gottes und die menschliche Freiheit“.
(Um Missverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen, dass der Autor des vorliegenden Artikels wesentliche Standpunkte der Theologie Emil Brunners ablehnt wie zum Beispiel Brunners Allversöhnungslehre, Inspirationslehre der Schrift – Brunner lehnt die Verbalinspiration ab – sowie sein Verständnis der Trinität.)
Dabei beschäftigten ihn zwei Fragen. Erstens, wenn alles Geschehen durch Gottes Willen bestimmt ist, wie verhält es sich dann mit der Freiheit des Menschen? Und zweitens, wenn alles Geschehen durch Gottes Willen bestimmt ist, wie verhält es sich mit der Liebe und Gerechtigkeit Gottes?

Im Zusammenhang mit der Frage des freien oder unfreien Willens des Menschen stellt sich die Frage des Determinismus. Unter Determinismus versteht man die These, dass alle Ereignisse, auch die zukünftigen, eindeutig festgelegt, also bestimmt sind. Der „Determinismus von oben“ – so nennt Brunner die Vorstellung, Gott habe alles Geschehen, einschließlich allen menschlichen Tuns, als Notwendigkeit göttlicher Vorsehung vorherbestimmt (prädestiniert) – bringt jedoch Schlussfolgerungen mit sich, die nur schwer mit der Schrift vereinbar sind. Brunner schreibt:

„Nur wenige christliche Denker, wie zum Beispiel Zwingli, haben es gewagt, diese Konsequenz [die Notwendigkeit allen Geschehens aufgrund göttlicher Vorsehung] aus ihrem Providenzgedanken [Providenz = Vorsehung] zu ziehen. Wo dies geschieht, wird Gott auch zum Ursächer der Sünde, wie Zwingli offen zugibt. … Wenn aber Gott den Räuber antreibt, ‚ist dieser nicht gezwungen? Ich gebe zu, er ist gezwungen, dann aber um hingerichtet zu werden.‘ (De Providentia, Kapitel 2).“ (Dogmatik II, Theologischer Verlag, Zürich, 1972, S. 187-188)

Calvin hingegen schreckt vor der Konsequenz, Gott sei Verursacher des Bösen, wie Zwingli es in seiner Schrift De Providentia darlegte, zurück. Ein derartiger Gedanke erscheint Calvin geradezu als Gotteslästerung. Brunner beobachtet allerdings in Bezug auf Calvin zutreffend:

„… nur ist nicht zu erkennen, wie er sich ihr [der Notwendigkeit allen Geschehens] anders als durch einen Gewaltakt des Willens … entziehen kann. … Notwendig ist bei ihm nur der eine Gedanke, der der Bestimmtheit alles Geschehens durch Gott, nicht aber der der menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit. Wenigstens hat Calvin da, wo er den Providenzbegriff entfaltet, diesem zweiten Gedanken durchaus nicht den Charakter gleicher, letzter Notwendigkeit zu verleihen vermocht. Calvin leugnet die menschliche Freiheit, behauptet aber gleichzeitig die volle menschliche Verantwortlichkeit, während er gleichzeitig Gott zum alleinigen Bestimmer des Geschehens macht, ohne ihm doch die Bewirkung des Bösen zuzuschreiben. Das ist das so sehr Unbefriedigende, um nicht zu sagen Peinliche und Unaufrichtige im Gedanken Calvins. Er gibt gar nicht zu, dass hier für unser Denken ein unlösbares Dilemma vorliege … sondern er tut dergleichen, als ob logisch alles in Ordnung wäre, während er tatsächlich der Logik ins Gesicht schlägt.“
(Ebd., S. 188)

Emil Brunner legt in seinen Ausführungen die Grundproblematik calvinistischer Theologie sehr deutlich und zugleich schonungslos offen. Folgt man der Lehre Calvins konsequent, muss sie notwendigerweise in den Schlussfolgerungen Zwinglis münden. Dann stünde calvinistische Theologie allerdings im Widerspruch zur Schrift – und auch zur Logik –, denn Gott ist nicht Urheber des Bösen (Jak 1,13-17; 1Jo 1,5; Tit 1,2; 2Tim 2,13).

Bis heute wird diese Frage unter Theologen aus allen Lagern diskutiert. Brunner merkt an, dass die häufigste Antwort auf das Problem von Gottes Vorsehung und Determinismus in den theologischen Debatten darin bestand, zwischen Determination und Vorauswissen zu unterscheiden. „Gott tut nicht alles, was geschieht, aber er weiß alles voraus.“ (Ebd., S. 189) Dies führt unumgänglich zur nächsten Frage. Wenn Gott zwar über Vorauswissen verfügt, aber das Tun des Menschen nicht vorherbestimmt, wie steht es dann mit seiner Allmacht und Souveränität? Um dieses Problem zu lösen, führten Theologen den Begriff Zulassung ein. „Gott will nicht, Gott bewirkt auch nicht den Fall Adams … und alles, was darauf folgt; andererseits sieht er es auch nicht bloß voraus, ohne etwas daran ändern zu können, sondern indem er es voraussieht, lässt er ihm Raum, dass es geschehen kann.“ (Ebd., S. 189)

Mit diesen Fragen ist die Frage des Gottesbildes verknüpft. Das Gottesbild, wenn es ein biblisches sein soll, muss indes aus der Heiligen Schrift abgeleitet werden. Gott ist aus der Sicht Brunners nicht absolute Macht in dem Sinne einer Allwirksamkeit, sondern der Gott, der sich selbst begrenzt. „Gott will und schafft freie Kreatur, weil er Gemeinschaft, nicht Einheit will. Er will in Freiheit geehrt sein.“ (Ebd., S. 189) Brunner argumentiert ganz von der Offenbarung Gottes, der Bibel, her und vermeidet die Vermischung mit philosophisch-metaphysischen Spekulationen.

Letzteres, so Brunner, war die Schwäche von Zwingli und Calvin – und in gewisser Weise der meisten Reformatoren, zu denen auch Luther zu zählen ist. Viele der Reformatoren waren als ehemalige Katholiken nicht nur geprägt von der mittelalterlichen Theologie, der Scholastik, sondern auch von Augustinus – Luther selbst war Augustinermönch, ehe er zum Protestanten wurde. „Zwingli akzeptiert die stoische necessitas [Stoa: griech. Philosophie; necessitas: Notwendigkeit], Calvin verwirft sie in thesi, führt sie aber wieder ein, ohne sie beim rechten Namen zu nennen. Und er tut es mit Berufung auf einen Allmachtsbegriff, der nicht der biblische, sondern ein spekulativer ist.“ (Ebd., S. 190)

Brunner geht nicht näher auf den Vorwurf ein, Calvin folge der Spur Zwinglis, sondern verweist in der Fußnote darauf, dass Calvin in seiner Institutio I, 17,5 Zwinglis Argumentation unverkennbar folge. Dort bekräftigt Calvin: „Ich gebe noch mehr zu: Diebe und Mörder und andere Übeltäter sind tatsächlich Werkzeuge der göttlichen Vorsehung, die der Herr zur Durchführung der Gerichte gebraucht, die er bei sich beschlossen hat. Aber ich bestreite, dass deshalb die Übeltaten dieser Leute irgendeine Entschuldigung verdienen. Denn wie sollten sie eigentlich Gott mit sich in ihre Bosheit verwickeln oder mit seiner Gerechtigkeit ihre Bosheit decken? Sie können doch beides nicht! Damit sie sich nicht reinwaschen können, straft sie ihr eigenes Gewissen; damit sie nicht Gott beschuldigen, finden sie, dass das Böse ganz in ihnen steckt, bei Gott dagegen nur die rechte Benutzung ihrer Bosheit liegt!“ (Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio Christianae Religionis, Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vluyn, 1988, S. 117)

Brunner erkennt sehr wohl, dass nicht die Philosophie das Problem hinreichend lösen kann, zu plump wären die Antworten. Brunner weiß sich auf die Offenbarung von Gottes Wort zurückgeworfen, um das Problem von Freiheit, Vorsehung, Gottes Allmacht und Determinismus zu lösen. Für ihn bleibt diese Frage letztlich „das undurchschaubare Geheimnis des göttlichen Allmachtswirkens, das Wirken des allmächtigen Gottes, der sich selbst begrenzt, um seiner Kreatur Raum zu schaffen und der doch, weil er selber sich begrenzt, nicht aufhört, der Herr alles Geschehens zu sein. Wir wissen, dass das eine und das andere wahr ist, ja dass das eine nur wahr ist, weil das andere wahr ist.“ (Emil Brunner, Dogmatik II, Theologischer Verlag, Zürich, 1972, S. 191)

Brunner kommt zu dem Schluss, dass es ein Geheimnis des Wesens und Waltens Gottes gibt, das uns Menschen verschlossen bleibt. Es muss dem Menschen genügen, „aus der Offenbarung die Wahrheit zu erkennen, dass Gott alles lenkt und dass nicht er, sondern wir allein verantwortlich sind für das Böse, das wir tun.“ (Ebd., S. 192) Für Brunner ist die Einführung des Begriffs „Zulassung“ ebenso wenig eine Erklärung für das Problem, sondern lediglich der Versuch, die Philosophie „in den Dienst der Glaubenserkenntnis zu stellen.“ (Ebd., S. 192) Ein solches Vorgehen täusche allenfalls eine Lösung vor, die letztlich keine sei.

Brunner zieht folgendes Fazit:

„Der andere Weg ist der, den im Ganzen das biblische Zeugnis geht: Die Nebeneinanderstellung der vollen menschlichen Verantwortlichkeit und Freiheit und der göttlichen Herrschaft über alles Geschehen; die unbedingt eindeutige Alleinverantwortung des Menschen für das Böse und die göttliche Allmacht und Weisheit, die aus diesem Bösen einen Faden des göttlichen Gewebes zu machen versteht, – beides ohne Reflexion über die logische Vereinbarkeit der beiden Aussagen.“ (Ebd., S. 192)

Luther, Zwingli, Calvin – sie alle waren geprägt von den theologischen Auffassungen ihrer Zeit. Luther beispielsweise nannte Ockham seinen „lieben Meister, den größten Dialektiker“ (Weimarer Ausgabe, Tischreden II, S. 516 Nr. 2544a), obgleich er auch Stellung gegen ihn bezog. Gleichwohl wird deutlich, dass Luther die Lehren des Nominalismus, der Philosophie Ockhams, nicht rundweg aus seinem theologischen Denken verbannte. Der Nominalismus lehrte, dass Gottes Handeln weder Grenzen noch eine Selbstbegrenzung – beispielsweise durch sein eigenes göttliches Wesen (Gnade, Gerechtigkeit usw.) – kennt. Gott handelt wann, wie und wo er will. Der Weg von der starken Betonung der Souveränität Gottes im Sinne des Nominalismus führt geradlinig zur Prädestinationslehre sowie der Lehre des unfreien Willens.

Zwingli folgte in seinem Denken der Philosophie der Stoa. Calvin seinerseits erfasste, dass Zwingli über die Schrift hinausging, was ihm nahezu als blasphemisch erschien. Doch indem Calvin Gott zum Verursacher allen Geschehens macht, der gleichwohl niemals Verursacher des Bösen sein könne, und indem er die menschliche Freiheit verneint, während er gleichzeitig alle Verantwortlichkeit dem Menschen selbst zuschreibt, folgte er unweigerlich der Spur Zwinglis, ohne letztlich die entscheidenden Fragen zu klären. Calvin interpretierte die Schrift durch die Brille seiner vorgefassten Annahmen des Allmachtswirkens eines souveränen Gottes. Er vermochte es nicht, sich gänzlich unter die Schrift zu beugen. Und so blieb sein Allmachtsbegriff, wie Brunner richtig anmerkt, letztlich doch nur ein spekulativer, ein nicht von der Schrift her gestützter Begriff.

Brunner hat in seiner Dogmatik im Kapitel Die Vorsehung Gottes und die menschliche Freiheit die Schwächen der Theologie Zwinglis und Calvins prägnant und zugleich deutlich dargelegt. Die grundlegende Problematik in der Auseinandersetzung mit dem Calvinismus in der Frage des freien oder unfreien Willens, der Souveränität Gottes und der damit verbundenen Prädestinationslehre sind damit klar umrissen. Eine der entscheidenden Fragen in der Debatte zwischen den reformiert-calvinistischen Theologen und jenen evangelikalen Theologen, die kritische Anfragen an die reformiert-calvinistische Sichtweise haben, ist die Prämisse, die man der Diskussion zugrunde legt.

Die zugrundeliegende Prämisse stellt die Weichen, in welche Richtung die Diskussion führen muss. Geht man von der starken Betonung der Allmacht und Souveränität eines Gottes aus, der sich selbst nicht begrenzt, sowie von einem unfreien Willen, endet man unweigerlich in der Sackgasse der einfachen oder gar doppelten Prädestination. Dann muss man gegen alle Logik und unter der Prämisse, Gott handle sogar gegen die Logik, zu dem Schluss kommen, dass Gott Urheber des Bösen ist, was gegen die Schrift steht. Geht man indes andererseits von der Prämisse aus, dass Gott in seiner Allmacht und Souveränität sich selbst begrenzt durch sein göttliches Wesen wie Liebe, Gnade, Heiligkeit und Gerechtigkeit, dann kann Gott nicht Urheber des Bösen sein.

Es ist jeweils die eine oder die andere Brille, durch die Theologen seit Jahrhunderten das oben diskutierte Thema betrachten. Vielleicht hat Emil Brunner Recht, wenn er das Wesen und Walten Gottes zu einem Geheimnis erklärt, das dem Menschen verborgen bleiben muss, bis wir alle in der Ewigkeit hingelangen zur vollen Erkenntnis. Bis dahin wäre zu wünschen, dass das Nachdenken und Debattieren Christus gemäß vonstattengeht. Eines Sinnes zu sein, Christus gemäß (Röm 15,5), in Demut den anderen höher zu achten als sich selbst (Phil 2,3-6), sollte unter Erlösten auch dann möglich, wenn gegensätzliche Erkenntnisse vorhanden sind. Miteinander in brüderlicher Weise über die Geheimnisse Gottes nachzudenken, anstatt scharfe polemische Auseinandersetzungen zu führen, ist nicht ein Zeichen von Schwäche, sondern von Geistlichkeit und Reife.

Spaltung in der Gemeinde Jesu Christi war noch nie ein Werk des Heiligen Geistes. Gottes Geist verherrlicht Gott, den Vater, und Jesus Christus und macht den wahren Nachfolger Christi von Herzen dankbar. Der Fürst der Prediger, Charles Spurgeon, brachte es auf den Punkt :

„Also mein theologischer Freund, der du viel weißt und in Bezug auf Lehren Haarspalterei betreiben kannst, es spielt keine Rolle, was du denkst oder was du weißt, es sei denn, es führt dazu, dass du Gott verherrlichst und ihm dankst.“ (Charles Spurgeon, Inexcusable Irreverence And Ingratitude, Predigt vom 13. Juli 1890 im Metropolitan Tabernacle, London)