Wenn du unseren ehrwürdigen, hochheiligen Glauben kennen gelernt hast, musst du auch dich selbst kennen lernen. Als Mensch hast du zwei Naturen, bist aus Seele und Leib zusammengesetzt. Ein und derselbe Gott ist, wie vor kurzem bemerkt, der Schöpfer der Seele und des Leibes. Deine Seele hat — das musst du wissen — freien Willen. Sie ist das schönste Werk Gottes, ein Ebenbild ihres Schöpfers. Sie ist unsterblich, da ihr Gott Unsterblichkeit verliehen hat. Ihrem Wohltäter verdankt sie es, dass sie ein vernünftiges, unzerstörbares Wesen ist. Sie hat die Fähigkeit, zu tun, was sie will. Cyrill von Jerusalem († 387)

„Völlige Verderbtheit“ bedeutet nicht den absoluten Verlust von jedem Überrest an Gutem, sondern dass das Böse die ganze menschliche Natur erfasst hat und dass nichts unberührt blieb. … Freier Wille bedeutet die Freiheit der Seele, Entscheidungen zu treffen, was sie in die Lage versetzt, eine bewusste Handlung zu vollziehen. … In diesem Sinne ist unsere Willensfreiheit real, und der Sündenfall hat sie nicht beeinträchtigt. H. Griffith Thomas (Gründer des Dallas Seminary, Professor für Theologie)

 

Bedeutet völlige Verderbtheit zwingend völlige Unfähigkeit?

Der Sündenfall und die menschliche Verderbtheit

Augustinus und die Ursünde

Es gibt viele Aspekte der Lehre des Augustinus in Bezug auf die Erbsünde, der zugestimmt werden kann und muss, wenngleich der Begriff „Erbsünde“ nicht der beste Ausdruck hierfür ist. Chafer unterschied richtigerweise zwischen persönliche Sünde, übertragene Sünde und zugerechnete Sünde.[1] Die Übertragung der Sündennatur auf die gesamte menschliche Rasse muss kaum verteidigt werden, da sie unumstößlich ist (Eph 2,1-3). Die natürliche Stellung Adams als Haupt ist die beste Grundlage für die Lehre der Anrechnung der Sünde. Hierbei handelt es sich nicht um einen vermeintlichen Bund, denn in 1Mose 2 trifft man nicht auf Begriffe, die auf einen Bund hinweisen. Die Auffassung, dass es sich bei Adam grundlegend um das Haupt der menschlichen Rasse handelt, ist plausibel.[2] Der Kontext in Römer 5,12ff hat die Vorstellung der Anrechnung der Sünde zum zentralen Inhalt und bestätigt diese Auffassung.

 

Die menschliche Verderbtheit wird nicht in Frage gestellt

Viele Calvinisten gehen davon aus, dass sie die Einzigen sind, die eine biblische Sichtweise der menschlichen Verderbtheit vertreten. Sie bestehen auf der „völligen Verderbtheit“ und sind sich möglicherweise nicht bewusst, dass es sich bei dem lateinischen Wort depravare um ein intensiviertes zusammengesetztes Wort handelt, das ohnehin „völlig verderbt“ oder „vollkommen sündhaft“ bedeutet.[3] Folglich weist die Hinzufügung „völlig“ auf eine doppelt intensivierte Vorstellung von Verderbtheit hin. Allerdings haben sachkundige Calvinisten erkannt, dass Arminius und Wesley eine völlig biblische Auffassung von Verderbtheit vertraten, obgleich die Remonstranten und viele Arminianer nur über ein schwaches, verwässertes Verständnis verfügten.[4]

Norman Geisler argumentierte, dass der extreme Calvinismus im Unterschied zum „umfassenden“ Verständnis der Bibel eine „verschärfte“ Sichtweise der Verderbtheit vertritt. Die verschärfte Sichtweise vertritt faktisch die Vorstellung, dass das Ebenbild Gottes und der menschliche Wille grundsätzlich zunichte gemacht wurden.[5] Die umfassende Sichtweise geht davon aus, dass die ganze Persönlichkeit Adams durch die Sünde Schaden erlitten hat, dass jedoch das Ebenbild Gottes und der menschliche Wille nicht völlig zerstört, sondern lediglich beschädigt wurden. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die semi-augustinische Auffassung der Synode von Orange (529 n. Chr.), nicht die des Semipelagianismus der späteren Kirche Roms. Die ausgewogene Sichtweise in Bezug auf die Verderbtheit, die hier vorgestellt wird, ist weder arminianisch noch semipelagianisch. Es ist nicht redlich, wenn Gelehrte wie R. C. Sproul, J. I. Packer und andere Evangelikale sie als „semipelagianisch“ bezeichnen, obgleich sie genau wissen, dass eine eindeutig semiaugustinische Sichtweise existiert.

 

Bedeutet völlige Verderbtheit zwingend völlige Unfähigkeit?

Die menschliche Verderbtheit m eigentlichen Sinne wird von den meisten evangelikalen Theologen anerkannt, obgleich der Semipelagianismus weit verbreitet ist. Auf der anderen Seite hat sich in calvinistischen Kreisen ein subtiler Wandel vollzogen. Aus der völligen Verderbtheit wurde die völlige Unfähigkeit gemacht. Verderbtheit bedeutet jedoch nicht unbedingt Unfähigkeit. Das biblische Zeugnis ist klar: Der Mensch ist völlig unfähig, sich selbst zu erretten. Die Wiedergeburt ist das alleinige Werk des Geistes Gottes, wie Johannes 1,12-13 verdeutlicht. Der Mensch kann nicht ein Jota zu seiner Wiedergeburt beitragen. Aber da der bußfertige Glaube eine erforderliche Bedingung für die Wiedergeburt ist, muss man sich der Frage zuwenden, ob der gefallene Mensch in der Lage ist, Buße zu tun und zu glauben.

Auf Grundlage des alttestamentlichen Berichts würde niemand zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Menschheit völlig unfähig sei, auf Gott zu reagieren. Das Alte Testament zeichnet fortwährend das Bild eines Gottes, der dem gefallenen Menschen begegnet und von ihm eine positive Reaktion erwartet. Gott wird als derjenige beschrieben, der von Anfang an die Initiative ergreift und der verlorenen Menschheit seit Adam und Eva begegnen will. Er gab Adam und Eva Kleider aus dem Fell eines Tieres, dessen Blut vergossen wurde, damit sie ihre Nacktheit verbergen konnten. Dies bedeutet, dass Adam und Eva zustimmend auf Gott reagiert hatten. Ihre Verwerfung aus dem Garten Eden und die Tatsache, dass sie nun keinen Zugang mehr zum Baum des Lebens hatten, führte im positiven Sinne dazu, dass sich ihre Nachkommen ihrer Entfremdung und geistlicher Not bewusst wurden. Abel reagierte im Glauben und im Gehorsam, aber Kain tat dies nicht. Man kann die Frage stellen, warum Gott den widerspenstigen Kain konfrontierte, wenn er den bußfertigen Glauben nur einer „auserwählten“ Gruppe zuteilt. Enosch, der Sohn Seths, war der erste Mensch, der den Namen des Herrn anrief (1Mo 4,26). Daraufhin begegnete Gott der Menschheit durch Propheten wie Henoch und Noah (Judas 14; 2Petr 2,5). Im letzteren Falle reagierte niemand. Die Kernaussage ist, dass Gott nicht auf Grundlage der Prämisse handelt, dass der Mensch völlig unfähig ist, auf Gott zu reagieren. Die Geschichte Israels verdeutlicht dies mehr als genug. Gott konfrontierte die Nation beständig und auf vielfache Weise, insbesondere durch die Propheten, und zeigte den Israeliten die Notwendigkeit, ihn zu suchen, Buße zu tun und zu ihm umzukehren (Jes 55,6).

Das Neue Testament lehrt ähnliche Wahrheiten. Johannes und Christus waren in ihrem Dienst sehr konfrontativ. Die Apostel hatten ebenfalls einen sehr konfrontativen Verkündigungsstil, der darauf abzielte, in ihren Hörern Buße und Glauben hervorzubringen. Sie forderten unbedingt Glaube und Buße von ihren Hörern. All dies geht davon aus, dass ihre Hörer in positiver Weise reagieren konnten, obgleich viele von ihnen es nicht taten. Dem apostolischen Beispiel folgend, müssen wir die Ungläubigen in der Gnade konfrontieren, da wir davon ausgehen können, dass sie positiv auf unsere Botschaft zu reagieren vermögen. Tatsächlich wandte Paulus im Besonderen eine apologetische Methode an, die die gesamte Persönlichkeit des Hörers ansprach: Intellekt, Emotion und Wille (Apg 17,2-4.17; 18,4; 19,8-9; 26,28). Obschon es unzweideutig so ist, dass Sünder aufgrund ihres moralischen Verhaltens Gott nicht gefallen können, sind sie in der Lage, auf das Evangelium Christi zu reagieren. Der Mensch ist verantwortlich dafür, im Glauben und in der Buße zu reagieren; es handelt sich nicht um eine direkte Gabe Gottes (siehe Kapitel 19). Die Personen, die argumentieren, dass Evangelisieren einer Verkündigung gleicht, die an Tote einer Leichenhalle gerichtet ist, haben die Auswirkungen des Sündenfalls überspitzt. Auf der Grundlage einer biblisch korrekten Definition, was den geistlichen Tod und den Rest von Gottes Ebenbildlichkeit angeht, sind derartige Analogien völlig verfehlt. Wie dem auch sei, Analogien beweisen gar nichts!

 

Verfügt der Mensch über ein Maß an Selbstbestimmung?

Einige stellen den Begriff „freier Wille,“ wie er von den Kirchenvätern Jahrhunderte vor Augustinus verwendet wurde, in Frage. Da die Menschheit zum Sklaven der Sünde, Satans und des Weltsystems wurde, müsse ein Begriff wie Freiheit neu bewertet werden. Luther sprach zu Recht von der „Knechtschaft des Willens.“ Es wäre angemessener, von Selbstbestimmung zu sprechen, jedoch von einer eingeschränkten Selbstbestimmung, da der Mensch durch Sünde gebunden ist; diese Selbstbestimmung ist nichtsdestotrotz real. Sproul wandte in Bezug auf die Verwendung des Begriffs ein: „Ist Gott souverän, dann kann der Mensch nicht selbstbestimmt sein. Umgekehrt, ist der Mensch selbstbestimmt, kann Gott nicht souverän sein. Diese beiden Vorstellungen schließen sich gegenseitig aus.“[6] Dies hängt jedoch von der Definition dieser Begriffe ab. Wenn Souveränität universelle Kausalität bedeutet, dann hat Sproul Recht. Aber in Kapitel 2 wurde erörtert, dass Omnikausalität [Gott bestimmt alles Geschehen der Welt und alle Handlungen des Menschen] nicht schriftgemäß ist. Die Verwendung des Begriffs „selbstbestimmt“ im säkularen Leben beinhaltet selten völlige Selbstbestimmung, und niemand spricht von völliger Selbstbestimmung des Menschen. (In der Geopolitik hat eine „autonome [selbstbestimmte] Region“ gewöhnlich eine begrenzte Autonomie.) Demnach besteht nicht wirklich ein echter Konflikt zwischen der biblischen Lehre der Souveränität Gottes und menschlicher Selbstbestimmung.

Der Mensch verfügte demzufolge nach dem Fall noch über von Gott gegebene Selbstbestimmung, obgleich diese durch die Sünde begrenzt war. Tatsächlich fuhr der Mensch fort, diese Selbstbestimmung aufgrund seiner Sündhaftigkeit in zunehmendem Maße zu missbrauchen. Gewiss hatte Gott den Menschen nicht programmiert, die Gewalt auszuüben, sodass Moses schrieb: „Da reute es den HERRN, dass er den Menschen gemacht hatte auf der Erde, und es betrübte ihn in seinem Herzen“ (1Mo 6,6). Die Geschichte von Gottes auserwähltem Volk Israel ist kaum positiver zu bewerten. Der Mensch „machte sein Ding.“ Dies wird nicht nur deutlich im ganzen biblischen Bericht, sondern ist täglich offenkundig. Es wäre deprimierend, den Niedergang des Menschen und seine zunehmende Rebellion Gott zuzuschreiben, der dies vor Ewigkeiten vorprogrammierte, wenn wir nicht glauben würden, dass Gott hinter den Kulissen wirkt, um seinen Ratschluss zu erfüllen, der darin besteht, seinen Heilsplan in der verlorenen Menschheit zu verwirklichen.

In den Evangelien ist das Tempo, mit dem Israel dem Messias widerstand und den Tod ihres Messias plante, Beweis dafür, dass die Menschheit in großem Maße ihre Selbstbestimmung missbraucht. Zwei Bibelstellen in den Evangelien machen dies deutlich: „Aber von den Tagen Johannes des Täufers an bis jetzt leidet das Reich der Himmel Gewalt, und die, welche Gewalt anwenden, reißen es an sich“ (Mt 11,12). Johannes wurde Gewalt angetan, indem man ihn enthauptete, und der Messias selbst sollte nicht minder Gewalt erfahren und bald gekreuzigt werden. Folglich erlitten die beiden wichtigsten Vertreter des Reiches der Himmel äußerste Gewalt.

Der Herr warnte die Apostel beständig vor dem Widerstand, der ihnen begegnen würde (Mt 10,46-62), was sich bald nach Pfingsten ereignete. Die Apostelgeschichte ist eine Chronik anhaltender Verfolgung. Nicht nur die Geschichte, sondern auch die apostolische Prophetie zeugt davon, dass sie ungehindert bis zur Wiederkunft Christi anhalten wird (Mt 24-25; 1Tim 4,1ff; 2Tim 3,1ff; 2Thess 2,1-12; 2Petr 3,1-9). Die Gemeinde wurde drei Jahrhunderte lang unter den Römern heftig verfolgt, und seit dieser Zeit eskaliert die Verfolgung wahrer Christen in der Welt. Gewiss handelt es sich hierbei nicht um eine Beschreibung des Menschen, der ein imaginäres ewiges Dekret ausführt; es handelt sich um Menschen, die die Selbstbestimmung, die Gott bei der Schöpfung in sie legte, missbrauchen, indem sie zu Werkzeugen Satans werden und Gott und seiner Gemeinde feindlich gesinnt sind.

 

Verfügt der gefallene Mensch über freien Willen?

Die erste Leugnung des freien Willens. Freier Wille ist unter manchen Christen ein „negativ besetztes Wort.“ Die frühen Kirchenväter jedoch prägten nicht nur diesen Begriff, sondern verteidigten ihn gegen den Determinismus des Neuplatonismus, Gnostizismus und Manichäismus. Insbesondere von Bedeutung ist, wie viele von ihnen das Ebenbild Gottes mit freiem Willen in Verbindung brachten. Zum Beispiel, hören wir Methodius (ca. 260-311): „Ja, wer dem Menschen den freien Willen abspricht und ihn von unausweichlichen Notwendigkeiten des Schicksals und ungeschriebenen Gesetzen abhängig macht, der lästert Gott selbst, stellt ihn als Urheber und Schöpfer der menschlichen Sünden hin“ (Gastmahl oder Die Jungfräulichkeit [Symposion seu convivium virginum], Achte Rede, Thekla, XVI). Hören wir Gregor von Nyssa (ca. 335-395): „Da wir nun die wichtigsten Bedingungen und Äußerungen sowohl des guten wie des bösen Wandels kennengelernt, so lasset uns, weil uns wegen unseres freien Willens die Entscheidung nach den beiden Richtungen freisteht, die Ähnlichkeit mit dem Teufel fliehen, indem wir die bösen Eigenschaften ablegen, dagegen nach der Ebenbildlichkeit mit Gott trachten und reinen Herzens werden, auf dass wir zur Seligkeit gelangen, nachdem wir durch einen reinen Wandel Gottes Bild in uns gestaltet haben, in Jesus Christus unserem Herrn, dem die Ehre und Macht sei von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Acht Homilien über die acht Seligkeiten, Sechste Rede). Höre Chrysostomus (347-407): „Also auch das ist Gnade, nicht zu wanken, sondern festzustehen. Wenn du jedoch von ‚Gnade‘ hörst, so meine nicht, dass damit der Lohn der freien Willensentschließung aufgegeben werde. Denn den Ausdruck ‚Gnade‘ gebraucht Paulus nicht, um die Tat der freien Willensentschließung zu missachten, sondern um dem Stolz auf die eigene Tat einen Riegel vorzuschieben“ (Kommentar zum Briefe des hl. Paulus an die Römer, Dritte Homilie, 3). Geisler fasst zusammen: „Nicht eine einzige Persönlichkeit in den ersten dreihundert Jahren Kirchengeschichte verwarf ihn [den freien Willen], und die meisten schrieben über ihn in ihren noch vorhandenen Werken.“[7] Er verglich  die frühen Schriften von Augustinus mit seinen späteren, um aufzuzeigen, dass er ab 417 n. Chr. seine Auffassung dahingehend radikal änderte, dass er den freien Willen verneinte. Da sich dieser Wandel im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Pelagius einstellte und als man die Donatisten wieder unter das Joch der katholischen Kirche spannen wollte, könnte seine Agenda eher pragmatischer denn dogmatischer Natur gewesen sein.[8] Als Luther und Calvin den Semi-Pelagianismus des römischen Katholizismus widerlegten, trieben sie die Verwerfung des freien Willens noch weiter voran.[9]

 

Die Wurzel der menschlichen Sünde. Der Comedian Flip Wilson wurde bekannt für seine Aussage: „Der Teufel brachte mich dazu, dies zu tun.“ Eine Reihe von Theologen hat bei ihrem Versuch zu erklären, wie Adam in seinem Zustand der Unschuld eine böse Handlung vollziehen konnte, das Problem bei Satan verortet. Aber da es aus biblischer Sicht klar ist, dass Gott keine sündhaften Wesen schuf, weicht man mit dieser Antwort der eigentlichen Frage nur aus. Martin Luther, der augustinischer Mönch war, ging einen Schritt weiter und schrieb das Problem der Sünde Gott und seinem Ratschluss zu, indem er sogar die Sünde Satans als Folge von Gottes Ratschluss betrachtete. Der Hypercalvinist R. C. Sproul ist nicht bereit, soweit zu gehen, aber er räumte ein, dass es sich um eine „unangenehme Frage“ handle.[10] R. C. Sproul Junior ist tatsächlich so weit gegangen.

Geisler argumentierte ziemlich unzweideutig, sowohl rational wie auch biblisch, dass selbst verursachte Handlungen die beste Erklärung für den Ursprung des Bösen sind. Die Schöpfung von Gottes Geschöpfen mit einem freien Willen ist die beste Erklärung für die Option zum Bösen. Gott hatte Luzifer als heiligen Cherub geschaffen, aber Ungerechtigkeit wurde in ihm gefunden, und so wurde er zu Satan. Wie geschah dies? Es ist eindeutig, dass Satan Sünde und Rebellion gegen Gott ins Leben rief (Jes 14,12-15; Hes 28,12-17). Geisler schlug drei Alternativen vor: „Meine Handlungen sind (1) unverursacht; (2) von jemandem (oder von etwas) verursacht; oder (3) von mir selbst verursacht. Es gibt viele Gründe, die letzte Sichtweise zu vertreten.“ Er zeigte auf, dass extreme Calvinisten dem fundamentalen Irrtum unterliegen, nicht zwischen dem selbstverschuldeten Lebewesen und selbstverschuldeter Handlung zu unterscheiden, was die einzige Antwort auf die Frage ist, warum Luzifer sündigte.[11] Luzifers ungerechter Hochmut war zweifelsohne selbstverschuldet.

Gottes Gericht über die Sünde Luzifers (Hes 28,16-19); 1Tim 3,6; Offb 20,10), über die gefallenen Engel (Judas 6-7; 2Petr 2,4; Offb 12,4.9) und über Adam und Eva (1Mo 1,3-19) macht deutlich, dass Gott seine freien Geschöpfe für ihre freien Entscheidungen moralisch zur Verantwortung zieht; andernfalls wäre es nicht gerecht, sie für ihre Taten zu richten (Offb 20,12). Eine der wesentlichsten Vorstellungen in der Schrift von 1Mose bis zur Offenbarung ist, dass Gott die Sünden von Personen, Familien und Nationen richtet und dass seine Gerichte gerecht sind.

 

Der direkte Schriftbeweis. Es gibt eindeutige Belege dafür, dass der gefallene Mensch weiterhin seinen freien Willen ausübt, nicht nur in den gewöhnlichen Entscheidungen seines Lebens, sondern auch in den moralischen Entscheidungen, die Gott betreffen. Moses forderte die Israeliten auf: „Ich nehme heute Himmel und Erde gegen euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt; so erwähle nun das Leben, damit du lebst, du und dein Same, indem du den HERRN, deinen Gott, liebst, seiner Stimme gehorchst und ihm anhängst“ (5Mose 30,19-20a). Später rief Josua Israel in gleicher Weise dazu auf: „Wenn es euch aber nicht gefällt, dem HERRN zu dienen, so erwählt euch heute, wem ihr dienen wollt: den Göttern, denen eure Väter jenseits des Stromes gedient haben, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt. Ich aber und mein Haus, wir wollen dem HERRN dienen!“ (Jos 24,15). Jesaja ermahnte Israel in gleicher Weise: „Kommt doch, wir wollen miteinander rechten! … Seid ihr willig und gehorsam, so sollt ihr das Gute des Landes essen … wenn ihr euch aber weigert und widerspenstig seid“ (Jes 1,18-20; vergl. 1Kö 18,21; Jes 45,22). Hatten Moses, Josua und Jesaja die Lehre der völligen Verderbtheit nicht begriffen? Wussten sie nicht, dass der Mensch nicht in der Lage ist, das „Leben zu erwählen?“ Einige vertreten die Auffassung, dass der freie Wille des Menschen Gott seiner Herrlichkeit und Souveränität beraubt. Nicht im Geringsten!

Betrachte, wie Johannes, Christus und seine Apostel ihre Zuhörer zur Umkehr und zum Glauben aufriefen. Christus traf den Nagel auf den Kopf, als er zu den jüdischen Führern sagte: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; und sie sind es, die von mir Zeugnis geben. Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu empfangen“ (Joh 5,39-40). Im Zuge des Laubhüttenfestes sprach er über den entscheidenden Faktor, der uns zur Wahrheit leitet: „Wenn jemand seinen Willen tun will, wird er erkennen, ob diese Lehre von Gott ist, oder ob ich aus mir selbst rede“ (Joh 7,17). Seine Aussage gipfelte in seiner letzten Klage über Jerusalem: „Jerusalem, Jerusalem, die du die Propheten tötest und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken unter die Flügel sammelt, aber ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus wird euch verwüstet gelassen werden“ (Mt 23,37-38). Viele weitere Aufrufe sollten in Betracht gezogen werden (Mt 11,28; 22,3; Joh 7,37). Über die Unwilligen brach das Gericht herein. Es ist der Wille des Menschen, nicht der Wille Gottes, der das Problem darstellt. Christus stellte sowohl jenen, die ihn annahmen als auch jenen, die ihn verwarfen, vor Augen, dass der entscheidende Punkt der menschliche Wille ist.

Beachte die Warnung des Petrus an die Spötter der Endzeit: „Dabei übersehen sie aber absichtlich, dass es schon vorzeiten Himmel gab und eine Erde aus dem Wasser heraus [entstanden ist] und inmitten der Wasser bestanden hat durch das Wort Gottes“ (2Petr 3,5). Bei der Schöpfung und der Flut handelt es sich um zwei Ereignisse, die der moderne Mensch nicht akzeptieren will, weil er andernfalls auf Gottes Wort reagieren müsste.

Einige mögen fragen, warum diese vertrauten Verse zitieren? Manchmal übersehen wir die offenkundige Aussagekraft des Vertrauten. Norman Doutys bringt es auf den Punkt:

Überdies wird in der apostolischen Verkündigung des Evangeliums von Sündern so gesprochen, dass man von ihnen erwartet, auf der Stelle Entscheidungen zu treffen – ohne irgendwelche Hinweise, sie unterlägen einer unüberwindlichen Notwendigkeit, nicht zu handeln. Damit wollten die frühen Verkündiger ihren Zuhörern sagen, dass ihre Zuhörer grundsätzlich über die Fähigkeit verfügten, auf den Gottes Ruf, seine Einladung, seine Gebote oder Drohworte zu reagieren.[12]

Völlige Verderbtheit und die Steinbruch-Methode[13]Calvinisten greifen eine Reihe von Beweistexten heraus, um völlige Verderbtheit zu untermauern.

Johannes 6,37.44.65

Calvinisten betrachten die Aussage Christi „Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen“ als Hinweis auf die „Erwählten,“ die durch unwiderstehliche Gnade zu Christus gezogen werden. Sie vertreten die Auffassung, dies werde in Vers 44 „Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, dass ihn der Vater zieht, der mich gesandt hat“ bestätigt. Für sie kommt im Zusammenhang mit dem Kontext keine alternative Auslegung in Frage. Die Textstelle jedoch bezieht sich nicht auf die „Erwählten,“ sondern sie muss in ihrem historischen Kontext betrachtet werden.

Kontext. In seiner Unterredung über das Brot des Lebens führte Christus einen regen Dialog mit einer skeptischen und fragenden Menschenmenge (V. 24ff). Er hatte gerade darauf hingewiesen, dass diese „doch nicht glaubt“ (V. 36), obgleich sie ihn gesehen hat. Sodann wandte er sich den wahren gläubigen Jüngern in der Volksmenge zu: „alle, die der Vater mir gibt.“ Sie sind es, die zu ihm kommen. Das zentrale Thema in der gesamten Unterredung ist Glaube oder Unglaube (6.29.35.40.47.64). Ferner sprach er vom Glauben im Bild des Essens des Fleisches des Menschensohnes und des Trinkens seines Blutes (6.35.51.53-58). Später betonte er den menschlichen Faktor des Willens: „Wenn jemand seinen Willen tun will, wird er erkennen, ob diese Lehre von Gott ist, oder ob ich aus mir selbst rede“ (7,17).

Identifikation. Der Schlüssel zur richtigen Auslegung dieser Textstelle ist die Identifizierung jener, die Christus als solche beschreibt, „die der Vater mir gibt.“ Da er diese Aussage mindestens vier weitere Male verwendete, müssen alle Aussagen im Kontext betrachtet werden. „Und das ist der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, dass ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat, sondern dass ich es auferwecke am letzten Tag“ (6,39) … „verherrliche deinen Sohn, damit auch dein Sohn dich verherrliche – gleichwie du ihm Vollmacht gegeben hast über alles Fleisch, damit er allen ewiges Leben gebe, die du ihm gegeben hast“ (17,1-2) … „Ich habe deinen Namen den Menschen offenbar gemacht, die du mir aus der Welt gegeben hast; sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt“ (17,6) … „Ich bitte für sie; nicht für die Welt bitte ich, sondern für die, welche du mir gegeben hast, weil sie dein sind“ (17,9). Aus dem Kontext des hohepriesterlichen Gebets geht deutlich hervor, dass er von den Jüngern zu seinen Lebzeiten sprach, die der Vater ihm gegeben hatte, insbesondere die Apostel.

Hierbei handelt es sich aus mehreren Gründen nicht um die abstrakte Vorstellung der Erwählten aller Zeitalter. In 17,6 hatte der Herr Jesus den Jüngern persönlich den Vater gezeigt. Dies trifft nicht auf die Erwählten vergangener Zeitalter zu, und die Vergangenheitsform (Aorist), die er verwendete, schloss überdies nicht die „Erwählten“ zukünftiger Tag ein. Der Satz „sie haben dein Wort bewahrt“ schließt zukünftige Generationen aus, da diese Aussage offenkundig nicht im Hinblick auf sie gemacht wurde. Überdies stellte er später klar, dass diejenigen, die auf das Wort der Apostel hin glauben, einen anderen Personenkreis darstellen als diejenigen, die der Vater ihm gegeben hatte: „Ich bitte aber nicht für diese allein, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben werden …“ (17,20). Der Gedankengang in beiden Kontexten ist somit eindeutig. Der Vater übergab dem Sohn im Zuge seines irdischen Dienstes den gläubigen Überrest der Juden. Diese sind die bereits Gläubigen, die unweigerlich zu ihm kommen. Folglich hat dieser Textabschnitt nichts mit unwiderstehlicher Gnade zu tun, da es sich bei dieser Personengruppe um wahre Gläubige handelt. Dies wird durch die frühere Aussage in Bezug auf die 70 Gesandten des Herrn bestätigt, als Jesus den Vater pries, dass er diesen Kleinen seine Geheimnisse geoffenbart hatte: „Alles ist mir übergeben worden von meinem Vater …“ (Lk 10,22). Hierbei handelt es sich um eine klare Aussage über Personen zu seiner Lebzeit, die ihm vom Vater gegeben worden waren und nicht um eine abstrakte Vorstellung über „Erwählte.“

Der gläubige Überrest. In vorausgegangenen Zeitaltern glaubten die alttestamentlichen Heiligen an den Vater. Nun, da der Sohn seinen Dienst begonnen hatte, wurde dem Sohn der gläubige Überrest durch den Vater übergeben. Dies schloss viele Bekehrte durch Johannes den Täufer ein, wie der Apostel Johannes in seinem Evangelium (Kapitel 1) berichtet; hierzu zählten Johannes selbst, Jakobus, Petrus, Andreas, Nathanael und andere. Zuvor hatten sie „vom Vater gehört und gelernt“ (Joh 6,45). Nun richteten sie ihren Glauben auf den Sohn, d. h., sie kamen zu ihm. Das Zitat Christi aus Jesaja 54,13 in Johannes 6,45 ist eine Bestätigung hierfür: „Es steht geschrieben in den Propheten: »Und sie werden alle von Gott gelehrt sein«. Jeder nun, der vom Vater gehört und gelernt hat, kommt zu mir.“ Es wird deutlich, dass die Jünger dieser Tage, denen Jesus diente und die für die Lehren des Vaters aus dem Alten Testament ein offenes Herz hatten, diejenigen waren, die im Glauben zu ihm kamen. Seine Aussage in Cäsarea Philippi, nachdem Petrus bekannt hatte, dass Christus Gott ist, unterstreicht dies: „Glückselig bist du, Simon, Sohn des Jona; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht geoffenbart, sondern mein Vater im Himmel!“ (Mt16,17).

 

Es sei denn, dass ihn der Vater zieht. Das „Ziehen“ in Johannes 6,44 erfordert eine Erörterung. „Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, dass ihn der Vater zieht, der mich gesandt hat; und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag.“ Calvinisten betrachten dies als ein unwiderstehliches Ziehen. Dies ist möglich, aber gewiss nicht notwendigerweise so zu verstehen, da das BAGD Lexikon eine zweite Bedeutung für helkuein anführt: „eine Person in Richtung von Werten des inneren Lebens bewegen, ziehen, anziehen.“ Sodann werden ein Dutzend Bibelstellen aus dem säkularen Griechisch und der Septuaginta als Beweis hierfür angeführt. „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Gnade“ (Jer 31,3). „Darum lieben dich die Jungfrauen! Zieh mich dir nach, so laufen wir!“ (Hohelied 1,3-4).[14] Auch das LSJ Lexikon führt neben anderen Bedeutungen auf: „8. Zu sich selbst ziehen, anziehen …“ und führt weitere sechs Bibelstellen zur Bestätigung an.  Beachte, dass sich die primäre wörtliche Bedeutung des Verbes „ziehen“ auf physische Objekte bezieht, wohingegen die symbolische Verwendung in Bezug auf das innere Leben einer Person ohne Zwang ausgeübt wird.  Christus verwendete das gleiche Wort erneut in Johannes 12,32: „… und ich, wenn ich von der Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen.“ Aus dem Kontext geht klar hervor, dass er sich auf Juden und Heiden bezog, als er von „allen“ (12,32) sprach. Obgleich diese Schriftstelle kein Beweis für universelle Erlösung ist, kann sie ebenfalls nicht als ein Beweis für unwiderstehliche Gnade gelten.

Sekundäre Bedeutung. Es ist eindeutig, dass die primäre Bedeutung „ziehen“ in Bezug auf physische Objekte an dieser Stelle unangebracht ist. Sie passt nicht in den Kontext: „Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, dass ihn der Vater zieht, der mich gesandt hat; ich werde alle zu mir ziehen.“ Es ist erstaunlich, dass Boettner in seiner Darlegung diese Bedeutung sogar hervorhebt.[15] Sproul zieht das Wort „drängen“ vor und weist auf das TDNT hin, welches das Wort als „durch unwiderstehliche Macht drängen“ definiert. Linguistisch und lexikographisch bedeutet das Wort ‚drängen‘.“[16] Sproul verfälschte diesen TDNT Artikel in grober Weise (vergl. Fußnote[17]). Wollen wir wirklich glauben, dass Gott uns zum Heil zerrt? Ist unser Gott ein Gott, der uns zwingt? Vermutlich würden die meisten Calvinisten Boettner und Sproul widersprechen, was die Verwendung des Wortes in seinem primären, nicht bildlichen Sinne bedeutet.[18] Daraus geht eindeutig hervor, dass es absolut zwingend ist, das Wort im sekundären, bildlichen Sinne zu verstehen.

Wie also werden Menschen zu Christus gezogen? Der Kontext von Johannes 6,44 macht deutlich, dass sie durch das Zeugnis von Abraham, Moses und den Propheten gezogen wurden, als die Juden Jesus von Nazareth auf seine übernatürliche Glaubwürdigkeit hin prüften und mit Nathanael zu dem Schluss kamen: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel!“ (Joh 1,49). Seit Pfingsten hat Gott die apostolische Botschaft und den apostolischen Dienst gebraucht, indem er sich christliche Zeugen zunutze machte. So einfach ist dies! Dean Henry Alford, ein meisterhafter Ausleger, bestätigte dies:

Dass es sich bei diesem ‚Ziehen‘ nicht um unwiderstehliche Gnade handelt, wird selbst von Augustinus bekannt, dem großen Vertreter der Lehren der Gnade. ‚Wenn ein Mensch unwillig kommt, glaubt er nicht; wenn er nicht glaubt, kommt er nicht. Denn wir rennen nicht mit unseren Füßen zu Christus, sondern durch Glauben; nicht mit der Bewegung des Leibes, sondern mit dem freien Willen des Herzens.‘ … Die griechischen Ausleger vertreten die Auffassung, die ich oben dargelegt habe … Dieses Ziehen wirkt heute in der ganzen Welt – in Übereinstimmung mit der Prophetie des Herrn (12,32) und seinem Missionsbefehl (Mt 28,19-20).[19]

Alles ist mir übergeben worden. Vance legte einen weiteren bedeutsamen Aspekt dar. In Johannes 6,44 ist es der Vater, der die Menschen zu Christus zieht, da der Vater den gläubigen Überrest der Juden seinem Sohn anvertraut („alle, die der Vater mir gibt“). In Johannes 12,32 sagte der Herr, dass nach dem Kreuz Er Selbst alle zu sich ziehen wird.[20] Dieser offenkundige Gegensatz bestätigt, dass es sich bei beiden Textstellen um den Überrest der Juden (Joh 6,44) im Gegensatz zu allen Menschen aus den Heiden (Joh 12,32) handelt. Beide Textstellen sprechen mit keinem Wort von unwiderstehlicher Gnade. Calvinisten ignorieren den gesamten Kontext!

Johannes 6,65. Obgleich Johannes 6,65 im Kontext des Gegensatzes von Gläubigen und Ungläubigen steht, sind einige zusätzliche Anmerkungen von Bedeutung: „Und er sprach: Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn von meinem Vater gegeben!“ Lässt man den Kontext außer Acht, könnte diese Aussage scheinbar zum Ausdruck bringen, dass die „Nicht-Erwählten“ hoffnungslos für die Hölle bestimmt sind, da ihnen keine unwiderstehliche Gnade zuteilwird. Auch hier ist der Kontext höchst ausschlaggebend. Viele der bekennenden Jünger Jesu hatten über seine Worte gemurrt (6,61). In diesem Zusammenhang ist der unmittelbar vorausgehende Vers von Bedeutung: „Aber es sind etliche unter euch, die nicht glauben. Denn Jesus wusste von Anfang an, wer die waren, die nicht glaubten, und wer ihn verraten würde“ (6,64). „Aus diesem Anlass zogen sich viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm“ (6,66). „Jesus antwortete ihnen: Habe ich nicht euch Zwölf erwählt? Und doch ist einer von euch ein Teufel!“ (6,70). Offenkundig bezog sich die Erwählung hier auf das Amt eines Apostels, nicht auf das Heil!

Das Licht verwerfen. Demnach machte Jesus diese Aussage in Bezug auf diejenigen, die sich als seine Jünger bekannten, insbesondere in Bezug auf Judas Iskariot, der ihn jahrelang begleitete, seinen Lehrreden zugehört und seine Wunder gesehen hatte. Sie verwarfen das größte Licht, das eine Person jemals verwerfen konnte. Sie hatten bekannt, dass sie gläubig waren, aber es war kein echter Glaube. Denjenigen verweigerte er es, zu ihm zu kommen! Was ist das Prinzip dahinter? Ist es der verborgene Ratschluss Gottes, auf den sich Calvinisten berufen, oder ist es Gottes Gericht über jene, die das Licht verwerfen? Jahre später wurde die Antwort durch einen bekehrten Pharisäer gegeben, der die Gemeinde heftig verfolgt hatte. Er hielt die Gewänder jener, die Stephanus steinigten. Er widerstand dem überführenden Werk des Heiligen Geistes. Er hatte gegen den Stachel ausgeschlagen (Apg 26,14). Und dennoch errettete Gott ihn! Den Grund hierfür erläutert er in 1Timotheus 1,12-13: „Und darum danke ich dem, der mir Kraft verliehen hat, Christus Jesus, unserem Herrn, dass er mich treu erachtet und in den Dienst eingesetzt hat, der ich zuvor ein Lästerer und Verfolger und Frevler war. Aber mir ist Erbarmung widerfahren, weil ich es unwissend im Unglauben getan habe.“ Paulus hatte sein Herz nicht vor diesem großen Licht verschlossen. Aber Judas und andere falsche Jünger sündigten gegen das große Licht und wurden mit der Blindheit gerichtet, die so häufig in der Schrift erwähnt wird (Röm 1,18-25; 2Thess 2,8-12).

Gericht. Später sagte der Herr im Zuge einer Auseinandersetzung mit einigen Pharisäern: „Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit die, welche nicht sehen, sehend werden und die, welche sehen, blind werden. Und dies hörten etliche der Pharisäer, die bei ihm waren, und sprachen zu ihm: Sind denn auch wir blind? Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wärt, so hättet ihr keine Sünde; nun sagt ihr aber: Wir sind sehend! — deshalb bleibt eure Sünde“ (Joh 9,39-41). Johannes 6,65 muss als Gerichtswort verstanden werden und nicht als etwas, das mit Verwerfung vor ewigen Zeiten in Verbindung steht.

Das gleiche Prinzip zeigt sich in Johannes 12,37-48. Beachtet man den Kontext nicht, könnte man zu der falschen Schlussfolgerung kommen, dass die „Nicht-Erwählten“ nicht glauben können. Doch der Kontext spricht gleichfalls vom Gericht der Verblendung über jene, die ihr Herz einem so großen Licht verschließen: „Obwohl er aber so viele Zeichen vor ihnen getan hatte, glaubten sie nicht an ihn; … Wer mich verwirft und meine Worte nicht annimmt, der hat schon seinen Richter: Das Wort, das ich geredet habe, das wird ihn richten am letzten Tag“ (Joh 12,37.48).

Johannes 8,43-44. Eine weitere ähnliche Aussage wird in diesem Kontext gemacht: „Warum versteht ihr meine Rede nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt! Ihr habt den Teufel zum Vater, und was euer Vater begehrt, wollt ihr tun!“ (8,43-44a). Diese Aussage kann nicht verallgemeinert und auf alle Unbekehrten angewendet werden, da aus dem Kontext klar hervorgeht, dass Jesus sich an einige verstockte Ungläubige wendet, die ihn tot sehen wollten. Sie waren diejenigen, die sein Wort nicht hören konnten.

Johannes 12,39-40. Auf dieses gleiche Prinzip trifft man in Johannes 12,39-40: „Darum konnten sie nicht glauben, denn Jesaja hat wiederum gesprochen: Er hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verhärtet, damit sie nicht mit den Augen sehen, noch mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile.“ Diese Aussage wurde im Kontext der Passionswoche gemacht, als die Feindschaft der herrschenden Klasse einen Höhepunkt erreichte und eine feindlich gesinnte Menschenmenge ihn herausgefordert hatte (12,34) und seine Wunderwerke ignorierte (12,31). Das Zitat aus Jesaja beschreibt die Blindheit als Folge des Gerichts über jene, die ihre Herzen dem großen Licht verschließen; nun erfüllte sich dies insbesondere an Israel, das seinen Messias verwarf. Dies hat nichts mit einer vermeintlichen Unfähigkeit der Menschen zu tun, auf das Evangelium reagieren zu können.

Paulinische Schriftstellen. Obwohl Römer 8,7-8 zitiert wird, um die Lehre der Verderbtheit im Sinne von Unfähigkeit zu belegen, bestätigt der Text lediglich die Unfähigkeit des nicht wiedergeborenen Menschen, das Gesetz zu halten oder Gott moralisch zu gefallen, aber er sagt nichts darüber aus, ob der Mensch fähig oder unfähig ist, dem Evangelium zu glauben. Bei Römer 9,15-16 handelt es sich um einen Beweistext der Calvinisten, auf den in Kapitel 25 näher eingegangen wird. Dem „es“ in Vers 16 geht Gottes souveräner Ratschluss der Erwählung Jakobs vor Esau als Stammvater der Nation Israels voraus, wie in Vers 11 beschrieben. Folglich hat auch dieser Text nichts mit der menschlichen Unfähigkeit, Gottes Botschaft zu glauben, zu tun. Ebenso berührt 1Korinther 2,14-15 diese Frage nicht: „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt werden muss. Der geistliche [Mensch] dagegen beurteilt zwar alles, er selbst jedoch wird von niemand beurteilt.“ Hier spricht Paulus über den gesamten Prozess der Offenbarung und Inspiration, durch den der Heilige Geist selbst die „Tiefen Gottes“ durch die Apostel verkündet und letztendlich in der Heiligen Schrift niederschreiben lässt. Der „geistliche Mensch“ steht im Widerspruch zum natürlichen Menschen und erfasst diese tiefen Wahrheiten. Demnach spricht er nicht von der Unfähigkeit aller nicht wiedergeborenen Menschen, die einfache Botschaft des Evangeliums zu verstehen und zu glauben. Wir alle waren einst „natürliche“ Menschen, aber wir erreichten den Punkt, an dem wir die einfachen Forderungen des Evangeliums erfassten. Andere Kapitel erklären, wie dies geschieht.

 

Weitere Probleme mit der völligen Unfähigkeit

Kann der Mensch auf die allgemeine Offenbarung Gottes antworten?

Gott zieht die Menschen zur Verantwortung, nicht nur aufgrund seiner Selbstoffenbarung in seinem Wort, sondern auch aufgrund der Offenbarung seiner Selbst dem Menschen gegenüber in der Natur und im Gewissen. Paulus schrieb über unbeugsame Ungläubige:

Denn es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit durch Ungerechtigkeit aufhalten, weil das von Gott Erkennbare unter ihnen offenbar ist, da Gott es ihnen offenbar gemacht hat; denn sein unsichtbares Wesen, nämlich seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit Erschaffung der Welt an den Werken durch Nachdenken wahrgenommen, sodass sie keine Entschuldigung haben. Römer 1,18-20

Daraufhin erklärt Paulus in Römer 2,14-16, welche Rolle das menschliche Gewissen als das Gesetz Gottes, das in die Herzen geschrieben ist, spielt, um den Menschen von Nutzen zu sein, auf die Offenbarung Gottes in der Schöpfung zu antworten. Heute ist die Offenbarung Gottes in seiner Schöpfung noch einleuchtender, berücksichtigt man die Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse. Gottes intelligentes Design, sei es im Makrokosmos der Astronomie oder im Mikrokosmos der Atomphysik, ist so augenfällig, dass viele Nichtchristen einräumen, dass es einen übernatürlichen intelligenten Designer geben muss.

Gott hat diese allgemeine Offenbarung genutzt, um unzählige Nichtchristen für das Evangelium empfänglich zu machen. Zum Beispiel, der Missionarsarzt Dr. Viggo Olsen und seine Frau bekehrten sich, als er Assistenzarzt war. Als Agnostiker kämpften sie mit der Frage, ob es einen Schöpfergott gäbe. Die Antwort auf ihre Frage fanden sie in apologetischer Literatur. Daraufhin beschäftigten sie sich mit der Frage, welches Buch die wahre Gottesoffenbarung enthalte. Im Zuge dieser apologetischen Reihenfolge wurden sie beide errettet.[21]

All dies wäre ein sinnloses Unterfangen, wenn der Mensch nicht in der Lage ist, auf Gottes Botschaft zu reagieren. Warum sollte sich Gott allen Menschen auf diese Weise offenbaren und sie zur Verantwortung ziehen, wenn er schon beschlossen hatte, dass nur gewisse auserwählte Menschen auf den Ruf Gottes antworten, glauben und errettet werden können? Warum sollte er sein Gesetz auf das menschliche Herz schreiben, wenn die Menschen völlig unfähig sind, darauf zu reagieren? Dies scheint absurd.

 

Kann der Mensch Gott suchen?

Nur ein einziges Mal gestand ein hypercalvinistischer Kollege jemals ein, dass sein Calvinismus keine Antwort auf die in Jesaja 55,6 aufgeworfene Frage gibt. Hätte er dies jedoch eingehender untersucht, wäre er auf fünfzig weitere Schriftstellen gestoßen, die der Lehre der völligen Unfähigkeit des Menschen, auf Gott zu reagieren, widersprechen. Er hätte einfach nur eine Konkordanz öffnen und das Wort „suchen“ nachschlagen müssen.

Viele berufen sich hinsichtlich der Unfähigkeit des Menschen auf die englische Übersetzung von Römer 3,10-11: „Es ist keiner gerecht, auch nicht einer; es ist keiner, der verständig ist, der nach Gott sucht.“ Als Paulus diese Textstelle aus Psalm 14 in der Septuaginta heranzog, war er sehr bedacht darauf, das intensivierte Verb ekzetein anstatt die einfache Grundform zetein zu gebrauchen. Aus dem Wortgebrauch in Apostelgeschichte 15,17, Hebräer 11,6; 12,17 und 1Petrus 1,10 geht hervor, dass er nicht ein allgemeines Suchen meinte, sondern ein „energisches Suchen“ nach Gott. Folglich sagte Paulus damit nicht aus, dass ein Mensch niemals überhaupt Gott suchen würde, sondern dass der Mensch nicht energisch nach Gott suchen würde. Ferner ist es von Bedeutung, dass es sich bei dem Verb um ein Partizip Präsens handelt, das eine Gewohnheit zum Ausdruck bringt. Es bezieht sich auf eine wiederholte Handlung,[22] und könnte demnach so übersetzt werden: „es ist keiner, der gewohnheitsmäßig und energisch nach Gott sucht.“ Wäre dies nicht der Fall, würde sich die Heilige Schrift widersprechen, da sie etwa fünfzig Schriftstellen aufweist, die davon sprechen, dass Personen Gott suchen sollen! Warum die fünfzig Schriftstellen ignorieren (siehe unten) und sich auf eine fokussieren? William A. Butler, dieser „brillante und tiefe Denker, hat Recht: „Wir halten einige wenige Texte so sehr vor unser Auge, dass wir den Rest der Bibel nicht mehr sehen.“[23] In diesem Fall handelt es sich gerade einmal um eine Textstelle!

Der Kontext von Psalm 14, den Paulus zitiert, ist ebenfalls von großer Bedeutung. David sagt, dass der atheistische Tor, der in seinem Herzen sagt, es gäbe keinen Gott, Gott nicht ernstlich sucht. Obgleich Paulus die Anwendung der Worte Davids in gewisser Weise auf eine breitere Ebene hebt, macht er eine allgemeine Aussage über die menschliche Rasse als Ganzes, die er auf Juden wie Heiden anwendet. Gleichwohl macht er keine verallgemeinernde Aussage über alle Menschen, was aus den fünfzig Schriftstellen hervorgeht, die das „Suchen“ zum Inhalt haben. Hier sollen nur einige wenige angeführt werden.

Beachte Gottes warnende Prophezeiung des kommenden Exils an das ungehorsame Volk Israel: „Wenn du aber von dort den HERRN, deinen Gott, suchen wirst, so wirst du ihn finden, ja, wenn du ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen wirst“ (5Mo 4,29); das Gebot Davids an die Führer Israels: „So richtet nun euer Herz und eure Seele darauf, den HERRN, euren Gott, zu suchen!“ (1Chr 22,19a); Gottes Tadel an dem abgefallenen Israel: „Ich werde davongehen, an meinen Ort zurückkehren, bis sie ihre Schuld erkennen und mein Angesicht suchen werden; in ihrer Drangsal werden sie mich ernstlich suchen“ (Hos 5,15); die doppelte Ermahnung des Amos: „Sucht mich, so werdet ihr leben!“ (Amos 5,4.6); und „Sucht den HERRN, alle ihr Demütigen im Land“ (Zef 2,3). (Vergl. 1Chr 28,9b; 2Chr 15,2b; Ps 105,3-4; Jes 55,6-7; Jer 29,12-13).

Wenn jemand arglos behauptet, hierbei handle es sich um das alttestamentliche Zeitalter, so höre er, was Paulus, der Apostel der Gnade, den Heiden zu sagen hat: „… damit sie den Herrn suchen sollten, ob sie ihn wohl umhertastend wahrnehmen und finden möchten; und doch ist er ja jedem Einzelnen von uns nicht ferne“ (Apg 17,27), und „… denen nämlich, die mit Ausdauer im Wirken des Guten Herrlichkeit, Ehre und Unvergänglichkeit suchen, ewiges Leben“ (Röm 2,7). Die übrigen Schriftstellen können mit einer Konkordanz ermittelt werden.

Der verlorene Sohn. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Lukas 15,11-32 liefert weitere Belege gegen die Lehre der völligen Unfähigkeit. Die Meinungen gehen auseinander, ob es sich um eine Person handelt, die vom Glauben abgefallen ist, oder um die Errettung eines Sünders. Die Worte Christi sind eindeutig: „… denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; und er war verloren und ist wiedergefunden worden“ (15,24). Der Vater wiederholt die gleichen Worte seinem älteren Sohn gegenüber in Vers 32. Er war geistlich tot und ist wieder lebendig geworden. Doch der HERR sagte klar, dass er in einem fernen Land „zu sich selbst kam“ und Buße über seine Sünde und Unwürdigkeit tat (15,17-19). Er ergriff die Initiative und machte sich auf zum Vater (15,20). Dies steht in vollkommenen Einklang mit den oben zitierten Schriftstellen und ist sehr schwer mit der Lehre der völligen Unfähigkeit vereinbar. Überdies betonte er in allen drei Gleichnissen, die eine verlorenen Sache zum Thema haben, die Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tut (15, 7.10.25.32) – dort wird sogar Musik gespielt und ein Fest veranstaltet! Wenn Sünder durch unwiderstehliche Gnade errettet werden auf Grundlage der Erwählung Gottes in der Ewigkeit, warum sollte im Himmel Freude aufkommen? Die Errettung der „Erwählten“ wäre von vorneherein bekannt, sodass weder Freude noch Überraschung über einen vorherbestimmten Ausgang entsteht. Wird daran nicht offenbar, warum die Lehre des Evangeliums alle Illusionen des calvinistischen Determinismus zunichtemacht?

Fallstudien. Das Neue Testament liefert viele Fallstudien. Betrachte Andreas und Johannes, die den HERRN suchten, nachdem sie das Zeugnis Johannes des Täufers gehört hatten. Nathanael zweifelte am Zeugnis des Philippus, aber er machte sich die Mühe, Jesus zu prüfen (Joh 1,35-51). Nikodemus suchte ihn auf, wenngleich mitten in der Nacht, und kam schließlich zum Glauben (Joh 3,1-21; 19,39-40). Der äthiopische Eunuch, obgleich ein ausgeschlossener Heide, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten, und fand Christus durch Philippus auf dem Weg nach Gaza (Apg 8,26-38). Der römische Centurion, Kornelius, obgleich nicht errettet, betete zu Gott und betete den Gott Israels an, der seine Gebete und Almosen belohnte und ihm das Privileg schenkte, der erste heidnische Bekehrte in der Gemeinde zu werden (Apg 10,1-11,7). Betrachtet die edlen gesinnten Juden in Beröa, die täglich die Schriften untersuchten, um zu prüfen, ob es sich so verhalte, wie Paulus es ihnen verkündigte; und „deshalb wurden viele von ihnen gläubig“ (Apg 17,10-12).

In den frühen 1960er Jahren wandte sich ein junger Mullah in einer Moschee in einem Dorf in Zentralpakistan desillusioniert vom Islam ab. Ismael erreichte auf dem Weg nach Indien den Bahnhof in Lahore, wo er sich mit dem Christentum und dem Hinduismus beschäftigte. Durch Gottes Führung traf er auf einen wiedergeborenen Christen, der ihn zu den Leitern der Bethany Assembly führte. Sie nahmen ihn auf und erklärten ihm gewissenhaft den Weg des Heils. Er nahm am Gottesdienst teil, und eines Tages war ich an der Reihe, die Predigt zu halten. Ich predigte über die Liebe in 1Korinther 13 (worüber Muslime wenig hören). Ich wusste nicht einmal, dass dieser Moslem im Gottesdienst war, ich rief nicht einmal zur Bekehrung auf, wie ich es gewöhnlicherweise tat. Nach einer halben Stunde Gebet teilten wir das Brot aus beim Abendmahl, als Ismael laut sagte: „Gebt mir davon!“ Als einer der erstaunten Ältesten nickte, gab man ihm ein Stück von dem gebrochenen Brot. Nach dem Gottesdienst rasierte er seinen Bart, wurde am nächsten Tag getauft und nahm den Namen Timotheus an. Sofort begann er, mit uns gemeinsam Zeugnis abzulegen. Weitere Beispiele könnten angeführt werden.

 

Schlussfolgerungen

Calvinisten deuten die biblische Lehre über die Verderbtheit des Menschen um in ihre Lehre der völligen Unfähigkeit, die besagt, dass der Mensch nur aufgrund der Wiedergeburt durch die unwiderstehliche Gnade auf das Evangelium reagieren kann. Ihre überspitzte Auffassung über die Verderbtheit des Menschen kann nicht durch das Studium der Schrift belegt werden. Es ist unmissverständlich, dass sich der Mensch ein bedeutendes Maß an Autonomie bewahrt hat. Das Handeln Gottes mit dem Menschen im Kontext des biblischen Narrativs weist eindeutig darauf hin, dass Gott sie als Personen betrachtet, die nicht in der Lage sind, auf seine Ermahnungen, auf seinen Ruf und auf das Evangelium selbst zu reagieren. Die frühen Kirchenväter glaubten, dass Gottes Ebenbild im gefallenen Menschen den freien Willen beinhaltet, und es gibt eine Fülle von Belegstellen, die ihre Schlussfolgerung stützen. Die Menschen können nicht nur auf die allgemeine Offenbarung Gottes reagieren, sondern Gott erwartet sogar, dass sie auf Gottes allgemeine Offenbarung reagieren. Tatsächlich wird dem Menschen 50 Mal geboten, Gott zu suchen. Dies ist ein Fakt trotz der unvollkommenen Übersetzung der Textstelle in Römer 3,11, auf die die Calvinisten so viel Wert legen. Schließlich haben wir aufgezeigt, dass die calvinistische Interpretation von Johannes 6 und anderen Schriftstellen von zu vielen Annahmen ausgeht und keineswegs den Kontext angemessen berücksichtigt.

 

Exkurs: R. C. Sproul, Willing to Believe

  1. C. Sprouls Buch Willing to Believe: The Controversy over Free Will [Mit dem Willen glauben: Die Kontroverse über den freien Willen) aus dem Jahre 1997 muss widersprochen werden, da es sich bei dem Autor um einen führenden Vertreter calvinistischer Theologie handelt. In seiner Publikation betrachtete er neun historische Lehrauffassungen zu dieser Frage. Er stellte die Lehrinhalte polarisierend dar, anstatt die Themen klar dazulegen.

Im einleitenden Kapitel argumentierte er gegen den Semipelagianismus und Arminianismus in abwertender Weise. Tatsächlich zitierte er Packer und Johnston zustimmend, die gesagt hatten, der heutige evangelikale Christ habe den Semipelagianismus im Blut (S. 22). Ferner wies er darauf hin, dass Arminianer (und der Rest von uns) kaum Christen sind, da es „grundlegend unchristlich“ sei, wenn man lehrt, der Glaube entstehe vor der Wiedergeburt. Dies ist eine grobe Beleidigung für Hunderte von Millionen von Christen! Wie kann sich Sproul in einer solch engen Herzenshaltung ausgewogen und vorurteilsfrei mit historischen Fakten auseinandersetzen? Wir würden ihn niemals als jemanden bezeichnen, der kein Christ sei und grundlegend unchristliche Auffassungen verbreite, selbst wenn er irrige Lehren vertritt.

In seinem Buch polarisiert Sproul, indem er im Wesentlichen nur drei Auffassungen anerkennt: die augustinische, die semipelagianische und die pelagianische. Dies verzerrt seine Darlegung in einem beachtlichen Maß, da es eindeutig vier weitere und möglicherweise darüber hinaus noch mehr Positionen gibt, was aus der historischen Analyse in Kapitel 27 hervorgeht. Dort wird deutlich, dass sowohl Schaff als auch Neve die semiaugustinische Position von der semipelagianischen unterscheiden. Sproul kennt die semiaugustinische Position, da er sie beiläufig auf Seite 76 erwähnt, aber er entschied sich, diese im gesamten Buch zu ignorieren. Dies führt zu einer Befangenheit, insbesondere dann, wenn die semiaugustinische Position sich als die biblische erweist. Sie muss direkt angesprochen und nicht ignoriert werden, vor allem, weil sie in ihrer historischen Vorgeschichte viele Vertreter hatte.

Seine Auswahl von theologischen Vertretern im Zuge seiner Erörterung ist ebenso voreingenommen, da kein vermittelnder Theologe zu Wort kommt. Warum gibt es kein Kapitel über semiaugustinische Vertreter oder über Philipp Melanchthon, der Luthers Augustinianismus wesentlich veränderte, woraus sich die gesamte lutherische Schule entwickelte. Warum keine Erwähnung von Moyse Amyraut und der gesamten Bewegung der hugenottischen Kirchen in Frankreich im 17. Jahrhundert, die die Lehre der allgemeinen Erlösung [Universalversöhnung: die Lehre, dass Christus für alle Menschen starb und nicht nur für die Auserwählten, nicht zu verwechseln mit Allversöhnung] vertraten, oder von Richard Baxter, der eine Mittelposition vertrat?

Nur in seiner Darlegung über Lewis Sperry Chafer, der ein Amyraldianer war [Vierpunkte-Calvinisten, die die Universalversöhnung vertraten], zeigte er richtigerweise einige der Widersprüche bei dem Versuch Chafers auf, einem moderaten Calvinismus zu folgen. Seine Ausführungen über Chafer folgen fast ausschließlich jenen von John Gerstner in seiner höchst abwertenden Erörterung des Dispensationalismus [Lehre der Brüderbewegung], in welcher Gerstner nicht direkt auf die Soteriologie von Chafer eingeht. Nichtsdestotrotz erhob Gerstner den alten Vorwurf gegen die Dispensationalisten, sie würden zwei Heilswege lehren, was Dispensationalisten tatsächlich im Laufe der Jahre wiederholt verneinten. Tatsächlich lehren Dispensationalisten, dass es in verschiedenen Zeitaltern unterschiedliche Regeln im Leben des Gläubigen gibt, wie Chafer sehr deutlich machte. Wie können Sproul und Gerstner fair mit einer Theologie umgehen, ohne sich in aufgeschlossener Weise ein Verständnis darüber anzueignen?

Am auffallendsten ist die Weigerung Sprouls, sich wirklich mit biblischer oder systematischer Theologie auseinanderzusetzen. Er legt keine biblische Exegese der deterministischen Schriftstellen vor. Obgleich Sproul der Anthropologie Augustins zustimmt, bleibt die Frage offen, ob er seiner kirchlich und sakramental geprägten Soteriologie beipflichtet. Möglicherweise empfand er, dass Calvins Schriften ihn zuverlässig darstellen, aber tatsächlich vertrat Calvin die Lehre der allgemeinen Erlösung, wie Kendall, Armstrong und Geisler nachgewiesen haben (siehe Zitate von Calvin im nächsten Kapitel). Die Methode, polarisierte Auffassungen gegenüberzustellen, ohne diese jemals einer biblischen Exegese zu unterziehen, ist ein fehlerhafter und fruchtloser Ansatz, um theologische Wahrheiten zu erarbeiten.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors C. Gordon Olson aus: Beyond Calvinism & Arminianism, Global Gospel Publishers, Lynchburg, 2012, S. 267-281

 

[1] Lewis Sperry Chafer, Systematic Theology, S. III.

[2] Henry C. Thiessen, Systematic Theology, S. 264-266; vergl. J. O. Buswell, Jr., Systematic Theology I; S. 304.

[3] Vance, Calvinism (2nd ed.), S. 185; Dr. A. Kidd, Collins Gem Latin Dictionary, 2nd ed., Harper Collins.

[4] Sproul, Willing to Believe, S. 126; Cunningham, Theology II, S. 389;

[5] Geisler, Chosen but Free, S. 116; Hoitenga, John Calvin and the Will, S. 69-70, 73; siehe Fußnote 11.

[6] Sproul, S. 20-26; Zitat auf S. 27.

[7] Forster and Marston, God’s Strategy, S. 244ff.; Geisler, S. 145-154.

[8] Geisler, S. 150-151; 161-172.

[9] Hoitenga, John Calvin and the Will, S. 19: „Augustinus, obgleich er klar die Knechtschaft des Willens und die Souveränität der Gnade lehrte, bemühte sich sehr, den freien Willen des Menschen nicht anzutasten. Calvin war sehr viel polemischer, was seine Auffassung in Bezug auf die menschliche Ohnmacht angeht, und er äußerte sich zurückhaltend über den freien Willen.“ (A. S. N. Lane, „Did Calvin believe in the Free Will?“). Auf den Seiten 69 und den folgenden Seiten argumentierte er, dass seine Sichtweise „fast die vollständige Zerstörung“ der natürlichen wie übernatürlichen Bestandteile des Willens beinhaltet.

[10] Sproul, Chosen by God, S. 31.

[11] Geisler, S. 25, ausführliche Erörterungen auf den Seiten 19-37.

[12] Norman F. Douty, The Death of Christ, S. 66.

[13] Praxis der Verwendung von isolierten, nicht kontextbezogenen Zitaten aus einem Dokument.

[14] Bauer-Arndt-Gingrich-Danker, A Greek-English Lexicon of the New Testament, S. 318.

[15] L. Boettner, Reformed Faith, S. 11.

[16] Sproul, Chosen by God, S. 69.

[17] Albrecht Oepke in TDNT II, S. 503. Sproul greift hier viele unterschiedliche Verwendungen  dieser dunklen Stelle heraus, die seiner Theologie entspricht und ignoriert den Rest, sowohl die ausdrückliche Auffassung von Oepke in Bezug auf die johanneische Verwendung als auch auf die drei Definitionen in BAGD und die vielen Definitionen in LSJ. Der Ausdruck „bedrängen/zwingen durch unwiderstehliche Übermacht“ (compel by irresistible superiority) kann weder in TDNT noch in anderen Lexika gefunden werden. Das einzige Mal, wo das Wort „unwiderstehlich“ in dem Artikel von Oepke gebraucht wird, steht im Zusammenhang mit einem hebräischen Wort, das überhaupt nichts mit dem Wort helkuein zu tun hat. Entweder ist Sproul naiv, was den Gebrauch eines theologischen Wörterbuchs angeht, oder er war nicht ehrlich im Umgang mit diesem.

[18] Sproul, S. 122-123; obgleich Sproul die Vorstellung von Gott, der uns schreiend und tretend an sich zieht, ablehnt, verwendet er das Wort bedrängen/zwingen (compel) in diesem Sinne.

[19] Henry Alford, The New Testament for English Readers: John, S. 521. Dieses Zitat von Augustinus stammte möglicherweise aus seinen frühen Schriften.

[20] Vance, S. 511.

[21] Viggo B. Olsen, Daktar: Diplomat in Bangladesh, Chicago: Moody Press, 1973, S. 29-57.

[22] Daniel B. Wallace, Greek Grammar Beyond the Basics, S. 521-523-

[23] Douty, S. 66, zitiert die Schaff-Herzog Encyclopedia und eine sekundäre Quelle. Sein Argument ist gut ausgeführt.